»Nuit debout«. Die sozialen Proteste in Frankreich weiten sich aus

Hoffen auf Konvergenz

In Frankreich weiten sich die Proteste gegen das Arbeitsgesetz weiter aus. Beschäftigte verschiedener Sektoren hoffen auf eine gemeinsame Streikbewegung.

Nach den Platzbesetzungen unter dem Motto Nuit debout, der aufrechten oder wachen Nacht, bringt die Protestbewegung gegen die Arbeitsgesetzreform der französischen Regierung nun neue Varianten hervor. In Saint-Ouen in der nördlichen Pariser banlieue gibt es etwa mittlerweile den Midi debout, den aufgeweckten Mittag: Menschen, die in der an der Pariser Stadtgrenze liegenden Kommune arbeiten, treffen sich an einem S-Bahn-Ausgang zum gemeinsamen Mittagessen und debattieren in Vollversammlungen über soziale Themen. Inzwischen hat sich die Platzbesetzungsbewegung auf über 60 französische Städte und Kommunen ausgeweitet, in Pariser Trabantenstädten, Regionalmetropolen wie Toulouse, aber auch in Kleinstädten in der Bretagne kommen Menschen zusammen.
Auf dem Platz der Republik, wo die Besetzungen am 31. März ihren Anfang nahmen, gibt es inzwischen auch die Bewegung Psychiatrie debout beziehungsweise Hôpital debout. In ihr schließen sich Beschäftigte zusammen, die gegen die derzeitige Kahlschlagpolitik im Gesundheitswesen protestieren. Die französische Regierung plant, 16 000 Krankenhausbetten einzusparen. Die Beschäftigten in der Psychiatrie wehren sich auch gegen das Vorhaben der Regierung, den Einrichtungen gefängnisähnliche Funktionen, wie Verwahrung und Freiheitsentzug, zu übertragen. Neben medizinischem Personal kamen bei der Pariser Vollversammlung am Montagabend auch Psychiatriepatienten zu Wort, die diese Entwicklung kritisieren.
Nach wie vor geht es aber auch um das Vorhaben der Regierung, das französische Arbeitsrecht zum Nachteil der Lohnabhängigen zu reformieren. Am 3. Mai beginnt die Debatte über das geplante Arbeitsgesetz in der französischen Nationalversammlung und am 11. Juni im Senat, dem Oberhaus des Parlaments. Unterdessen übt der Arbeitgeberverband Medef, der stärkste der drei Kapitalverbände in Frankreich, sich in Erpressung, sollte das von ihm ersehnte Gesetz doch nicht oder nicht in der gewünschten Form verabschiedet werden. Am Dienstagmorgen drohte der Medef für diesen Fall, die derzeit laufenden und alle zwei Jahre stattfindenden Verhandlungen der sogenannten Sozialpartner über die Neuregelung der Arbeitslosenversicherung zu verlassen. Dann könnte die Arbeitslosenkasse, deren Leitung paritätisch mit Gewerkschaftern und Arbeitgebervertretern besetzt ist, nicht mehr funktionieren und der Staat müsste aus Steuermitteln für ihre Leistungen einspringen.
Wie vor zwei Jahren verhandeln der Medef und auch der rechtssozialdemokratische Gewerkschaftsbund CFDT– während viele andere Gewerkschaften opponieren – derzeit vor allem über eine Verringerung der Ansprüche für die intermittents du spectacle, die Beschäftigten im Kulturbetrieb (Jungle World 25/2014). Diese sind in Frankreich in aller Regel nicht festangestellt und werden während ihrer auftragslosen Zeit nach speziellen Regeln aus der Arbeitslosenkasse alimentiert. Die Kulturprekären zählen zu den tragenden Kräften der derzeitigen Protestbewegung.
Zuvor soll am 28. April der nächste landesweite Aktionstag mit Demons­trationen und Streiks stattfinden, der, abgesehen von der CFDT und dem christlichen Gewerkschaftsbund, von der Mehrzahl der Gewerkschaftsverbände unterstützt wird. Unterdessen rufen mehrere Gewerkschaften für den 26. April zu einem Streik bei der Bahngesellschaft SNCF auf. Dabei geht es zunächst um bahninterne Themen, wie Arbeitsbedingungen und Löhne, doch es wäre vorstellbar, dass die Streikbewegung eine Brücke zwischen beiden Terminen schafft und es dadurch vielleicht auch in anderen Sektoren zu Arbeitsniederlegungen kommt. Eine erfolgreiche Streikbewegung könnte dafür sorgen, dass die Sozialproteste nicht zwischen strategisch unwirksamen Latschdemonstrationen der Gewerkschaftsführungen einerseits und der Randalestrategie eines Teils der Platzbesetzer andererseits steckenbleiben.
Die linke Bahngewerkschaft SUD Rail hofft etwa auf eine Ausweitung der Streiks. Anmelder der Arbeitniederlegung bei der SNCF am 26. April ist allerdings die CGT, die stärkste Einzelgewerkschaft dort. Ihren Aufruf unterstützen mittlerweile auch die CFDT und die kaum politisch auftretende Gewerkschaft UNSA, denen sicherlich nicht an einer Radikalisierung der Proteste und einer »Konvergenz der Kämpfe« gelegen ist, wie sie etwa die Platzbesetzungsbewegung fordert.
Die kommenden Tage und Wochen werden entscheidend sein. Dann wird sich herausstellen, ob die derzeitigen Bewegungen das Potential haben, das geplante Arbeitsgesetz in Gänze oder in Teilen zu verhindern. Gelingt dies nicht oder gerät dies als zentrales Anliegen aus den Augen, droht hinterher der Katzenjammer.