Die lateinamerikanische Drogenmafia profitiert von Kriminalisierung und Prohibition

Ya Basta

Kaum irgendwo auf der Welt besitzt die Drogenmafia so viel Macht wie in Mexiko. Ihr Einfluß in Politik und Wirtschaft garantiert den Kartellen ihren anhaltenden Erfolg.

Die kühnste Idee kam von Hector Astudillo Flores. Man solle den Anbau von Schlafmohn und Marihuana legalisieren, forderte der Gouverneur des südmexikanischen Bundesstaats Guerrero – einer Region, deren Opiumproduktion die Hälfte des US-amerikanischen Heroinkonsums deckt. »Wir müssen außergewöhnlichen Problemen mit außergewöhnlichen Maßnahmen begegnen«, sagte er im März. Den Vorschlag sollten die Vertreter seines Landes zur UN-Drogenkonferenz UNGASS in New York mitnehmen.
Astudillo will die Legalisierung auf Pflanzen beschränken, die zu medizinischen Zwecken angebaut werden. Dennoch ist sein Vorhaben einer verbreiteten Erkenntnis geschuldet: Wo Hanf, Schlafmohn oder Kokasträucher illegal kultiviert werden, gehören Erpressung, Mord und Totschlag zum Alltag. »90 Prozent der gewalttätigen Vorfälle in Guerrero geschehen im Zusammenhang mit Drogen«, ist der Politiker der ehemaligen Staatspartei PRI überzeugt.
Zweifellos werden in Guerrero viele illegalisierte Rauschmittel produziert. In den vergangenen zwei Jahren haben Soldaten dort 190 000 Mohnpflanzen vernichtet. Dennoch ist Astudillos Kalkulation irreführend. Sie geht davon aus, dass sich die kriminellen Gruppen auf den Begriff »Drogenmafia« reduzieren lassen und zudem alle von staatlichen Akteuren ausgehende Gewalt nur dem Kampf gegen diese Organisationen geschuldet ist. Tatsächlich aber sind die in dem Bundesstaat aktiven Banden »Ardillos«, »Rojos« und »Guerreros Unidos« in vielen Geschäften tätig. Sie kassieren Schutzgeld, erpressen Kleinbauern, verschleppen Frauen für die Prostitution. Gemeinsam mit den Kriminellen gehen Polizisten und Soldaten gewaltsam gegen die verarmte Bevölkerung vor.
Trotzdem hat Gouverneur Astudillo nicht ganz unrecht, wenn er dem illegalisierten Geschäft die Hauptschuld an den gewaltsamen Verhältnissen gibt. Denn die kriminellen Kräfte, die heute in vielen Regionen das gesellschaftliche Leben bestimmen, hätten ohne den Drogenanbau und dessen vermeintliche Bekämpfung so nicht entstehen können. In den siebziger Jahren begannen lokale Führungsfiguren, abgesichert durch die korrupten Strukturen der damaligen Einparteienherrschaft der PRI, in Guerrero Mohn und Marihuana zu kultivieren. Dank der US-amerikanischen Prohibition stiegen die Preise ständig, der Handel wurde immer lukrativer. Seit die mexikanischen Kartelle ihre kolumbianische Konkurrenz zurückgedrängt haben, kontrollieren sie auch noch den Kokainschmuggel in die USA. So sind beispielsweise die Küsten und Straßen Guerreros zu einträglichen Transportrouten aus Kolumbien geworden.
Die Illegalisierung des Drogenkonsums hat Mexikos Banden erst zu dem gemacht, was sie heute sind: wichtige Akteure der internationalen organisierten Kriminalität. Wer die »Plaza«, sprich Sicherheitskräfte, Zoll, Bürgermeister und Speditionen in einer Region kontrolliert, verdient sich damit eine goldene Nase. Und das unabhängig davon, ob Opium, Waffen oder illegal abgebautes Eisenerz geschmuggelt werden. Deshalb, und nicht nur wegen des Drogenanbaus, sind Guerrero und der anliegende Bundesstaat Michoacán besonders umkämpfte Gebiete. Ähnlich verhält es sich in Bundesstaaten wie Veracruz oder Tamaulipas. Dort zwingen Söldner der »Zetas« Migrantinnen und Migranten, für sie zu arbeiten, und zweigen Erdöl aus den Pipelines des staatlichen Konzerns Pemex ab.
Auch die Menschen im »Goldenen Dreieck« der nördlichen Bundesstaaten Sinaloa, Durango und Chihuahua litten bereits in den siebziger Jahren unter den verheerenden Konsequenzen der Prohibition. Zwischen 1975 und 1977 intervenierten insgesamt 20 000 mexikanische Soldaten unter Anleitung US-amerikanischer Militärs in der Region, um die illegalen Plantagen zu vernichten. Kleinbauern, für die ihre Saat so selbstverständlich war wie für einen schwäbischen Landwirt das Züchten von Zuckerrüben, verloren ihren Broterwerb. Manche gingen in die Städte, um von dort aus das Geschäft professioneller zu organisieren. So wurde dieser erste Drogenkrieg, den Mexiko erlebte, für einige zum Beginn einer fulminanten Karriere. In den folgenden Jahrzehnten entstanden jene Unternehmen, die heute weltweit zu den Großen der Organisierten Kriminalität zählen: Los Zetas, das Golf- und das Sinaloa-Kartell, dessen Chef Joaquín »El Chapo« Guzmán im Sommer 2015 durch einen spektakulären Gefängnisausbruch für Schlagzeilen sorgte.
Trotz dieser Erfahrungen setzte die mexikanische Regierung weiterhin auf eine militärische Lösung. 2007 schickte der frischgewählte Präsident Felipe Calderón Tausende Soldaten in die umkämpften Regionen. Damit entfachte er eine Eskalation, die vor allem die Zivilbevölkerung traf. Bis zum Ende von Calderóns Amtszeit 2012 starben nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft 120 000 Menschen, Tausende verschwanden, Folter und Angriffe von Armee und Polizei auf Zivilisten nahmen exorbitant zu.
Die organisierte Kriminalität dagegen erlebte lediglich einige Neujustierungen, wie sie in jedem kapitalistischen Gewerbe üblich sind: Im Norden musste das einst bedeutsame Juárez-Kartell schwere Schläge hinnehmen, was die Macht von El Chapos Truppen stärkte. Im Süden zerfielen große Organisationen in kleinere Banden. Der Versorgung US-amerikanischer und europäischer Kokser, Kiffer und Junkies hat das nicht geschadet. Neuerdings erlebt das Geschäft durch den Handel mit Amphetaminen sogar großen Aufschwung.
Angesichts dieser Bilanz verwundert es nicht, dass Mexiko seit 2012 mit Guatemala und Kolumbien auf den UNGASS-Gipfel drängt, um eine Neuorientierung der weltweiten Drogenpolitik durchzusetzen. Schließlich leidet die mexikanische Bevölkerung besonders unter einer Politik, die den Konsum von Heroin oder Kokain dort bekämpfen will, wo die Rauschmittel hergestellt werden. Warum sollte sich die mexikanische Gesellschaft weiterhin mit einem Problem herumschlagen, das im Wesentlichen durch den Drogenkonsum der nördlichen Nachbarn geschaffen wird? In Mexiko hat die Regierung bereits erste Schritte unternommen: Der Besitz von fünf Gramm Marihuana, 0,3 Gramm Kokain oder 50 Milligramm Heroin ist nicht mehr strafbar.
Doch eine grundsätzliche Abkehr von der Prohibition auf internationaler Ebene würde in Mexiko nicht nur auf Zustimmung stoßen. Unzählige Bürgermeister, einige Gouverneure und eine unbekannte Zahl weiterer hochrangiger Politiker profitieren von der Kriminalisierung des Konsums, weil sie auf der Gehaltsliste der Kartelle stehen. Sie alle haben wenig Interesse daran, dass ihren Geschäftspartnern eine Quelle versiegt, die die Hälfte deren Umsatzes garantiert. Zahlreiche lokale Ökonomien würden ohne die Drogeneinnahmen zusammenbrechen.
Viele haben sich nicht freiwillig auf dieses Geschäft eingelassen. »Die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit erklärt nicht nur die Unzufriedenheit. Sie führt auch dazu, dass viele keinen besseren Ausweg finden, als Marihuana zu säen oder auf Bezahlung zu morden«, schreibt der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro. Wer die Drogen entkriminalisieren will, ohne ernsthafte Schritte zur Überwindung von Korruption und Armut zu unternehmen, wird deshalb nicht weit kommen. Schließlich sind in Mexiko, das zu den reichen OECD-Staaten zählt, 45 Prozent der Bevölkerung arm, zehn Prozent leben sogar in extremer Armut.
Doch selbst für den Fall, dass Gouverneur Astudillos ambitionierter Vorschlag Gehör finden und künftig in Guerrero Mohn zu medizinischen Zwecken angebaut werden sollte, wird das die illegale Herstellung von Drogen kaum beeinflussen. In einem Bundesstaat, in dem Kriminelle die meisten Bürgermeisterämter samt Polizeibehörden kontrollieren, kommt die Macht aus den Gewehrläufen. Wo die Menschen sich nicht selbst mit bewaffneten Milizen schützen, sind sie den Kartellen ausgeliefert. Die Zahl der Morde hat in Guerrero auch während der Amtszeit Astudillos weiter zugenommen, obwohl der nach dem Verschwinden von 43 Studenten in seinem Bundesland neu gewählte Gouverneur mehr Sicherheit versprochen hatte. Als im November Mörder eine komplette Familie auslöschten, stellte der Menschenrechtsverteidiger Manuel Olivares klar: »Wir erleben das Scheitern eines Rechtsstaats und einer Regierung, die das Recht auf Leben nicht garantieren kann.« Wer sollte da kontrollieren, zu welchem Zweck ein Bauer welche Kräuter pflanzt?