Gert Oostindie im Gespräch über die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in den Niederlanden

»Eine offizielle Entschuldigung hat es nie gegeben«

Gert Oostindie ist Historiker mit dem Schwerpunkt niederländische Kolonialgeschichte und Geschichte der Karibik. Derzeit lehrt er als Professor an der Universität Leiden.

Nach der Unabhängigkeit ihrer Länder wanderten viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien in die Niederlande ein. Welche Bedeutung hat die Erinnerung an den Kolonialismus in den heutigen Niederlanden?

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Kolonialgeschichte durch mehrere Migrationsbewegungen aus den ehemaligen Kolonien im wahrsten Sinne des Wortes heimgekehrt. Heute hat etwa eine Million der insgesamt 16,5 Millionen Staatsbürger mit Wohnsitz in den Niederlanden koloniale »Wurzeln«. Auch wenn die Vorstellung einer niederländischen Leitkultur offiziell niemals aufgegeben wurde – die postkolonialen Migranten und deren Nachkommen haben der modernen niederländischen Gesellschaft einen deutlichen Stempel aufgedrückt. Das reicht von der Küche über Sprache und Literatur bis hin zu Unterhaltung und Sport und hat schließlich auch die Art verändert, wie an die koloniale Vergangenheit erinnert wird. Allerdings ist die Gruppe der postkolonialen Migranten sehr heterogen – und damit auch die Art des Erinnerns.

Wodurch zeichnete sich die niederländische Kolonialherrschaft in der Karibik und in Südostasien aus?

In der Karibik war die Kolonialherrschaft durch den Einsatz von versklavten Afrikanern auf den Zucker-, Kaffee- und Baumwollplantagen bestimmt. Migranten aus den Niederlanden kamen dorthin kaum. Anders im früheren Niederländisch-Ostindien. Dorthin gab es mehrere Migrationsbewegungen aus den Niederlanden und auch aus anderen europäischen Ländern, wenngleich diese nur einen äußerst kleinen Teil der indonesischen Gesamtbevölkerung ausmachten. Niederländisch-Ostindien war wirtschaftlich viel bedeutender für die Niederlande als die karibischen Kolonien. Die ökonomische Ausbeutung des Archipels trug finanziell erheblich dazu bei, dass sich die Niederlande zu einer modernen Industrienation entwickeln konnten. Das lag auch am äußerst brutalen Cultuurstelsel (Kultivierungssystem), mit dem die javanischen Bauern über mehrere Jahrzehnte einen Teil ihres Landes und ihrer Arbeitszeit auf die Produktion von Kaffee, Zucker und Tabak verwenden mussten.

Bis zu den Zwischenkriegsjahren entwickelte sich Niederländisch-Ostindien nicht nur zu einem unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor für das »Mutterland«, sondern erlangte auch in geopolitischer und ideologischer Sicht eine herausragende Bedeutung. Bei den karibischen Kolonien war das anders. Der vergleichsweise geringe Beitrag, den die dortigen Kolonien zur niederländischen Wirtschaft leisteten, bildete den Hintergrund für die unterschiedlichen Verläufe der Dekolonisierung. So zeigten sich die Niederlande zunächst nicht bereit, sich von Indonesien und dem Westteil Neuguineas zu trennen, während sie die Übergabe der Souveränität an Suriname mit großem Enthusiasmus vorantrieben. Gleichzeitig sind viele Niederländer immer noch enttäuscht, dass die niederländischen Antilleninseln nicht unabhängig werden wollen.

Fühlen sich die Migranten aus den ehemaligen Kolonien und deren Nachfahren trotz der Heterogenität miteinander verbunden, etwa als Gemeinschaft der ehemals Kolonisierten?

Zwischen den einzelnen Gruppen unterscheiden sich das Interesse an der kolonialen Vergangenheit und das Wissen um sie und auch die Gefühle, die mit diesem Erbe verbunden werden, stark. Indonesier, Surinamer und Antillaner identifizieren sich nicht als »postkoloniale Gemeinschaft«. Das ist allenfalls im Bereich der Literatur und der Kunst präsent. Selbst innerhalb dieser angenommenen nationalen Gemeinschaften gibt es keine geteilte Identität. Schon bei ihrer Ankunft in den Niederlanden identifizierten sich die während der Kolonialherrschaft aus verschiedenen europäischen Ländern nach Indonesien Eingewanderten nicht mit ebenfalls von dort kommenden Indoeuropäern oder den Molukkern, von denen viele in der Kolonialarmee dienten. Ähnlich war das bei den aus der Karibik emigrierten Nachfahren der afrikanischen Sklaven und den Nachfahren der Arbeitsverpflichteten aus Britisch-Indien sowie Niederländisch-Indien, die nach dem offiziellen Ende der Sklaverei 1863 zu Zehntausenden in den karibischen Kolonien eingesetzt wurden.

Welche Erfolge konnten die einzelnen Gruppen bisher erzielen?

Im Ringen um Anerkennung machte der niederländische Staat den einzelnen Gruppen einige offizielle Zugeständnisse. So beschränkt die Regierung seit 1988 die Erinnerungsveranstaltungen zum Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf das Ende der deutschen Besatzung, sondern bezieht auch das Ende der japanischen Besetzung von Niederländisch-Ostindien (1942–45) mit ein. Das ist eine inklusive Geste gegenüber den postkolonialen Einwanderern aus Indonesien, für deren Leiden während der Okkupation sich zuvor kaum jemand interessierte. Darüber hinaus förderte die Regierung in den neunziger Jahren die Publikation einer Reihe von Büchern zur Geschichte der aus dem ehemaligen Niederländisch-Ostindien Emigrierten. Ebenfalls in den Neunzigern wurde ein molukkisches Geschichtsmuseum in Utrecht errichtet, das aber heute wegen mangelnder staatlicher Finanzierung nicht mehr existiert.

Das klingt nicht nach einer umfassenden Auseinandersetzung mit der blutigen Kolonialherrschaft. Was sehen Sie kritisch?

Es wird nur selten der Stellenwert der niederländischen Kolonialpolitik für das heutige Indonesien in den Blick genommen. Auch entsteht nur langsam ein Bewusstsein für die von der niederländischen Armee im Indonesischen Unabhängigkeitskrieg begangenen Kriegsverbrechen. Darüber hinaus zeigt sich bei der öffentlichen Erinnerung an die in Asien tätige Ostindien-Kompanie immer noch eine Mischung aus Chauvinismus und Nostalgie. So forderte der ehemalige Ministerpräsident Jan Pieter Balkenende 2006, die Niederländer sollten die Mentalität der Ostindien-Kompanie wiederentdecken. Gegenüber der Westindien-Kompanie hingegen äußert man sich wegen ihrer Bedeutung für die Sklaverei in den karibischen Kolonien wesentlich kritischer.

Welche Formen nimmt die öffentliche Erinnerung an den Sklavenhandel und die Sklaverei in den karibischen Kolonien an?

Seit Ende der Neunziger finanzieren die Regierung und öffentliche Institutionen Initiativen zur Erinnerung an die Sklaverei in den karibischen Kolonien. Immer wieder haben die Regierung und auch Angehörige der königlichen Familie ein »tiefes Bedauern« und ein »schlechtes Gewissen« in Bezug auf die Sklaverei öffentlich zum Ausdruck gebracht. Eine offizielle Entschuldigung hat es aber nie gegeben – aus Angst vor Entschädigungsforderungen. 2002 wurde in Anwesenheit der Königin und des Ministerpräsidenten ein Nationaldenkmal zur Erinnerung an die Sklaverei enthüllt, und kurz darauf entstand mit dem Ninsee in Amsterdam ein nationales Institut zur Erforschung der Sklaverei, dessen staatliche Förderung allerdings unlängst gekürzt wurde. In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche Monumente und Inschriften. So verweist eine Plakette am Amtssitz des Bürgermeisters von Amsterdam darauf, dass einer der ersten Bewohner des Gebäudes ein speziell für den atlantischen Sklavenhandel zuständiger Beamter der Westindien-Kompanie war. Die Zahl solcher Erinnerungsorte mit Bezug zur Sklaverei und dem Sklavenhandel nimmt weiter zu. 2013 wurde der 150. Jahrestag der Sklavenbefreiung mit zahlreichen Ausstellungen, Fernsehserien, Büchern und Filmen begangen. Diese Entwicklungen tragen deutlich dazu bei, dass die niederländische Öffentlichkeit inzwischen stärker für das Thema sensibilisiert ist. Doch obwohl der Sklavenhandel nicht mehr totgeschwiegen wird und die meisten Niederländer zustimmen würden, dass die Sklaverei schlecht war, verteidigen viele, wenn nicht die meisten, zum Beispiel immer noch die traditionell rassistische Darstellung des Zwarte Piet, des schwarzen Knechts des Heiligen Nikolaus. Zudem protestieren rechte Politiker immer wieder gegen das angebliche Abstempeln der Niederlande als Sündenbock.

Wie wird demgegenüber der Kolonialismus in der offiziellen, nationalen Geschichtsschreibung dargestellt?

Seit Ende der neunziger Jahre wurden in den Niederlanden zahlreiche, oft hitzige Debatten über die eigene nationale Identität und ihre historischen Wurzeln geführt. Ein Produkt dieser Debatten ist die erste kanonische Version niederländischer Geschichte aus dem Jahr 2006. Sie wurde von einer Regierungskommission erstellt und für die Geschichtsvermittlung in der Grundschule und in der Sekundarstufe empfohlen. Nirgendwo kommt es darin zu einer Glorifizierung des Kolonialismus, die Sichtweisen reichen von nüchtern-neutral bis zu explizit kritisch. Dies schlägt sich auch im Unterricht nieder, wo heute viel kritischer und aufmerksamer mit dem Kolonialismus und seinem Erbe umgegangen wird.

Wie setzt man sich an den niederländischen Universitäten mit dem Kolonialismus auseinander?

Dort herrscht heute ein größeres Interesse an kolonialer und postkolonialer Geschichte als je zuvor. Allerdings hat sich dort keine so spürbare Tendenz zu politisch engagierten Postcolonial Studies entwickelt wie an den britischen Universitäten. Die Zahl der Historiker mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonien ist leider immer noch äußerst gering.

Niederländische Kolonien

Im 17. Jahrhundert waren die Niederlande eine der größten Kolonialmächte Europas. Ihre Kolonien und Handelsposten erstreckten sich über den gesamten Globus. Zwar verkleinerte sich der niederländische Einflussbereich schrittweise, doch bis ins 20. Jahrhundert konnte das Königreich drei Kolonien halten. Der Indonesische Archipel, der über die Jahre zu einem unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor für die Niederlande wurde, erreichte seine offizielle Unabhängigkeit 1949, auch der Westteil Neuguineas ging 1963 an Indonesien. Vorangegangen waren in beiden Fällen blutige Auseinandersetzungen und langwierige Verhandlungen mit dem »Mutterland« sowie starker internationaler Druck. Das in der Karibik gelegene heutige Suriname wurde 1975 auf friedlichem Weg unabhängig. Die Niederländischen Antillen gehören, wenn auch unter anderem Namen, noch immer zum Königreich.