Platzbesetzungen oder Generalstreik? Das Verhältnis der Protestbewegung zu den Gewerkschaften

Gemeinsam oder gar nicht

Die Bewegung gegen das französische Arbeitsgesetz könnte größer und dynamischer werden, wenn die Gewerkschaften den Protest aktiv unterstützten. Bisher sympathisieren sie mit den »Nuit debout«-Protesten, ein Aufruf zum Generalstreik ist jedoch nicht in Sicht.

»Das Morgen beginnt hier«, hat jemand mit einer Sprühdose auf den Boden geschrieben. Jemand anders fordert »einen neuen Mai 1968«. Ein Dritter begnügt sich damit, seine Signatur zu hinterlassen: »Abdel war hier.«
Solche und weitere Spuren finden sich derzeit auf der Pariser Place de la République, die seit dem 31. März jeden Abend und jede Nacht besetzt ist. Menschen stehen in Gruppen und diskutieren, beteiligen sich an Vollversammlungen mit bis zu 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, hören Konzerten zu, informieren sich an Infoständen und debattieren in sogenannten Kommissionen verschiedenste Themen.
Inzwischen gibt es 22 solcher thematischer Arbeitsgruppen auf dem Platz. Bei manchen geht es um die richtige soziale Kampfstrategie, etwa in den Kommissionen »Generalstreik« und »Konvergenz der Kämpfe«. Die Feminismus-Koordination versucht unter anderem dafür zu sorgen, dass die wohl teils von Alkohol begünstigten Fälle von sexueller Belästigung, die sich an manchen Abenden zu später Stunde häufen, nicht unbeachtet bleiben. Am Samstag hat die Pariser Polizeidirektion den Alkoholverkauf auf dem Platz verboten, was von manchen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, von anderen jedoch als Eingriff kritisiert wird.
Bei der Kommission »Ökologie und Klima« folgt eine Debatte auf die nächste. Am Montag geht es um Bodenversiegelung und die daraus entstehenden Probleme, am Dienstag um den 30. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und die Atom­in­dus­trie. Bei der Kommission »Françafrique« wird über den französischen Neokolonialismus in Afrika informiert.
Längst hat das Beispiel der Pariser Platzbesetzerinnen und -besetzer auf andere französische Städte ausgestrahlt. Am Wochenende waren es über 60 Besetzungen im ganzen Land. Neben Regionalmetropolen wie Lyon, Lille und Toulouse sind mittlerweile auch weniger bekannte und kleinere Städte wie Plombières-les-Bains, Questembert oder Saint-Aubin-du-Cormier unter den Protestorten.
Landesweit blickt die Medienöffentlichkeit vor allem auf die Pariser Platzbesetzerinnen und -besetzer, seit die Bewegung von der Place de la République ihren Ausgang nahm. Wegen miserabler Witterungsverhältnisse und beinahe winterlicher Abendtemperaturen nimmt die Beteiligung seit Samstag erstmals ab, am Montag fiel die allabendliche Vollversammlung sogar aus. Teile der Protestbewegung sammelten ihre Kräfte für neue Aktionen Mitte der Woche.
Am Donnerstag dieser Woche findet erneut ein landesweiter Aktionstag statt, den die größeren Gewerkschaftsdachverbände unterstüzen – sofern sie nicht wie die rechtssozialdemokratisch geführte Confédération française démocratique du travail (CFDT) die Regierungsposition unterstützen. Es ist der erste gemeinsame Termin von Jugend- und Studierendenvereinigungen und Gewerkschaften seit dem 9. April. Da die größeren Gewerkschaftsverbände wochenlang inaktiv blieben, wurden Plätze besetzt, um den Druck aufrechtzuerhalten.
Die Eisenbahner-CGT bremst
Doch dieses Mal liegt der Termin der Proteste gegen das geplante Arbeitsgesetz zwischen dem Bahnstreik der Société Nationale des Chemins de fer Français (SNCF) und dem 1. Mai. Der Bahnstreik richtet sich nicht direkt gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts, sondern hat unternehmensspezifische Forderungen zum Gegenstand: Die Leitung der SNCF möchte den Eisenbahnbeschäftigten zehn bis 21 Ruhetage im Jahr streichen, die Zahl der Doppelruhetage von 52 auf 30 jährlich reduzieren und Wochendienstpläne noch bis einen Tag vor Inkrafttreten ändern können.
Manche soziale Kräfte wie die linke Basisgewerkschaft bei der Eisenbahn, SUD Rail, wollten eine Brücke vom Streiktag am Dienstag über die landesweite Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz bis zum 1. Mai schlagen. Die Eisenbahner-CGT, die stärkste Einzelgewerkschaft bei der SNCF, wollte davon zunächst wenig wissen. Beim 51. Kongress des Dachverbands Confédération générale du travail (CGT), der von Montag bis Freitag voriger Woche in Marseille stattfand, waren es gerade die Delegierten der Eisenbahn, die gegen die Radikalisierung und Ausweitung der Kämpfe eintraten und eher für eine strategische Annäherung an den als gemäßigt geltenden Gewerkschaftsbund CFDT plädierten.
Die CGT als stärkster Dachverband von heftigen Debatten erschüttert. 31 Prozent der Delegierten stimmten gegen den Leitantrag des Vorstands und weitere 14 Prozent enthielten sich der Stimme. Immerhin öffnete der CGT-Kongress einer Ausweitung des Kampfes auch durch Streiks und Arbeitsniederlegungen die Tür. Er fordert die Mitgliedsgewerkschaften an Ort und Stelle dazu auf, die Beschäftigten in Personalversammlungen zum Aktionstag am Donnerstag zu konsultieren. Dabei soll auch die Frage gestellt werden, ob die Fortsetzung des Streiks alle 24 Stunden in Vollversammlungen auf die Tagesordnung gesetzt werden soll. Man nennt diese Taktik grève reconductible, also einen verlängerbaren Streik.
Der von vielen Delegierten erhobenen Forderung, der Dachverband solle ausdrücklich zum Generalstreik aufrufen, erteilte dessen Führung unter Philippe Martinez jedoch eine Absage. Die Leitung gab zu bedenken, dass sich ein Generalstreik nicht von oben verordnen lasse. Kritische Stimmen sind hingegen der Auffassung, wenn die geplante umfassende Reform des Arbeitsrechts kein Anlass sei, zu den stärksten Mitteln zu greifen, dann gäbe es keinen.
Die Berührungsängste der Bewegung
Auch unter den Platzbesetzerinnen und Besetzern gab es Vorbehalte gegen eine Annäherung an die Gewerkschaften. Dabei trifft eine linksradikal-sektiererische Ideologie auf eine abstrakte Bürgerbewegungsideologie, die in anderen Teilen der Bewegung verankert ist. Diese Ideologie mündet oft in eine generelle Organisationsfeindlichkeit, verknüpft mit der Vorstellung, man müsse nur lange genug auf demokratischen Verfahren insistieren – oft in Gestalt stundenlanger Diskussionen darüber, wie man diskutiert –, dann lasse sich schon immer ein Konsens finden.
Auf die Probe gestellt wurde diese Vorstellung in den vergangenen Wochen jedoch immer wieder, wenn Rechte auftauchten. Ein Mitglied der rechtsextremen, querfrontähnlich auftretenden »Bewegung des 14. Juli«, Sylvain Baron, wurde ein halbes Dutzend Mal des Platzes verwiesen, was aber immer wieder zu Diskussionen über Offenheit und demokratisches Rederecht führte.
Die Widerstände der Bewegung gegen eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften wurden in der vergangenen Woche offenbar überwunden. Am Samstag wurde ein Appell durchgesetzt, der Gewerkschaftsvertreter dazu auffordert, nach der Demonstration vom Donnerstag auf dem besetzten Platz das Wort zu ergreifen. Eine Reaktion der Gewerkschaften steht noch aus. Klar ist jedoch, dass von der Frage der Bündelung der Kräfte Einsatz gegen die geplante Reform in den kommenden Tagen sehr viel abhängt. Die Parlamentsdebatte über das Arbeitsgesetz soll am kommenden Dienstag beginnen.