Entsteht in Frankreich eine revolutionäre Situation?

Kampf und Konfusion

Droht ein neuer Mai ’68?

Alles neu macht der Mai – entsteht vielleicht sogar eine revolutionäre Situation in Frankreich, wie zuletzt im Mai ’68? Keine Frage, die sozialen Auseinandersetzungen rund um das neue Arbeitsgesetz mit vereinzelten Streik- und Aktionstagen sowie nächtlichen Platzbesetzungen in diversen Städten sind gegenwärtig das dicke Ding für Linke und Revolutionäre in einem Europa, in dem ansonsten Rechte die Agenda diktieren zu scheinen. Am Sonntag besetzten rebellierende Kulturprekäre das Odeon-Theater in Paris, damit ihre Arbeitslosenallokation nicht eingeschränkt wird. Die Nachteulen von der Place de la République kündigten an, abends eine Versammlung in dem Theater abzuhalten, um die Kulturprekären zu unterstützen – eine erste Konvergenz der Kämpfe, wenn man so will, ein Interessenkampf, der mit dem gegen das Arbeitsgesetz zusammenläuft.
Interessenkämpfe in Frankreich haben es in sich, sie tendieren dazu, ruppig ausgetragen zu werden. Mit Demonstrationen, Straßenblockaden, vereinzelten Sabotageaktionen, Besetzungen, Streiks in diesem und jenem Sektor. Als »militanter Reformismus« wurde das früher meist bezeichnet. Und oft scheint in diesen Interessenkämpfen etwas durch, das über die Gesellschaft des Kapitals hinausweist.
So ist es auch dieses Mal. Letztlich ist für jeden was dabei. Gewerkschafter können sich freuen, dass den Unternehmern mal wieder eine Harke gezeigt wird, und darauf hoffen, dass ein Streik der Eisenbahner – sozusagen die das schwere Geschütz im französischen Klassenkampf – die Regierung zum Einlenken bewegt. Zivilgesellschaftler und Politprofis in spe, die auf die Entstehung eines französischen Pendants zu Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland lauern, sammeln ihre ersten Schäflein auf den »Nuit debout«-Veranstaltungen, auf denen bereits Yanis Varoufakis standing ovations erhielt. Andere, wie das ökonomische Mastermind Frédéric Lordon oder der Vorsitzende der französischen Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, gehen im Hintergrund mit ihren eigenwilligen Vorstellungen einer französischen Souveränität jenseits des Euro hausieren. In besetzten Unis halten hartgesottene Ideologinnen aus dem Umfeld der Indigènes de la République tagelang Veranstaltungen gegen die berüchtigte »Islamophobie« ab, auf denen sie das Publikum mit ihrem neuesten Ideologiehit – »soziale Rassen« – beglücken. Militanzfetischisten freuten sich unbändig, als Gruppen parallel zu einer »Nuit debout«-Nacht Fensterscheiben um die Place de la République zerdepperten und sich mit den Flics zofften, teils halluzinierten sie bereits von einer Stadtguerilla. Anarchisten agitieren auf Flugblättern gegen das Arbeitsgesetz, indem sie betonen, dass sie gleichermaßen gegen die (Lohn-)Arbeit und gegen das (staatliche) Gesetz sind.
Und irgendwann ertönt unvermeidlich der Ruf nach dem Generalstreik, der Staat und Kapital ihr verdientes Ende bescheren soll. An diesem Punkt ist man gerade angelangt. Wenn aber die sozialen Auseinandersetzungen nicht einen riesigen Sprung nach vorne machen, wird es nichts aus einem neuen Mai nach Art von ’68. Das Kräfteverhältnis mit den Bossen scheint ungünstig für die Arbeiter, eine Ausweitung von »Nuit debout« auf die Banlieues ist gescheitert, und vor allem: Wilde Streiks jenseits der Gewerkschaften, also eine Art Arbeiterautonomie, sind nicht in Sicht. Anstelle einer revolutionären Veränderung bleibt dann nur die Hoffnung, dass zumindest große Teile des neuen Arbeitsgesetzes fallen.