Das Internationale Filmfestival in Istanbul

Spiel um Leben und Tod

Das Internationale Filmfestival in Istanbul stand unter dem Eindruck der jüngsten Terroranschläge, der Flüchtlingsthematik und der Gängelung durch die Regierung. Filmemacher und Künstler wollen sich nicht einschüchtern lassen.

Asiye Dinçsoy, träumend, rennend, schreiend, verzweifelt. Der Film »Das Staubtuch« lebt vor allem von den beiden Hauptdarstellerinnen (neben Dinçsoy agiert Nazan Kesal). Es ist ein Drama um zwei kurdische Putzfrauen in Istanbul. Für die Darstellung der Nesrin erhielt Asiye Dinçsoy auf dem 15. Istanbuler Film-Festival den Preis als beste Darstellerin. Regisseurin Ahu Öztürk erhielt den Preis für das beste Drehbuch, der Film gewann als bester türkischer Beitrag in der Sparte abendfüllender Spielfilm die Goldene Tulpe. »Das Staubtuch« ist ein unsentimentaler, packender Film über die Freundschaft zweier unterschiedlicher Frauen. Während die eine gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter versucht, ohne ihren Ehemann in der Großstadt zu überleben, träumt die andere von einem Haus in den Gegenden, in die sie zum Putzen fährt. Der Film ist ein spannendes Sozialdrama, das gleichzeitig tiefe Einblicke in die sozialen Gegensätze der türkischen Gesellschaft gibt. Regisseurin Ahu Öztürk schafft mit ihrem Spielfilmdebüt eine moderne Parabel über die Komplexität eines einfachen Lebens.
Das Festival wirkte in diesem Jahr verhaltener als sonst und fand unter dem Eindruck der jüngsten Anschläge statt. Die Veranstalter konnten nur halb so viele Besucher in die Kinos in Beyoğlu locken wie im vergangen Jahr. Fast alle Spielstätten liegen auf dem İstiklal-Boulvard; dort tötete ein Selbstmordattentäter vor vier Wochen fünf Touristen, 35 wurden zum Teil schwer verletzt. Erstmalig fand die Preisverleihung nicht in Beyoğlu, sondern in einem Kongresszentrum am Goldenen Horn statt. Es handelt sich um eine von der islamisch-konservativen Regierung gebaute hässliche Betonburg, die auch aus Sicherheitsgründen als Veranstaltungsort gewählt wurde. Regisseurin und Preisträgerin Ahu Öztürk nahm die Auszeichnung von der Schauspielerin Müjde Ar entgegen, einer der zentralen Persönlichkeiten der türkischen Frauenbewegung, die in ihren Rollen immer wieder starke Kämpferinnen gegen patriarchale Rollenverteilungen verkörpert hat. Die Regisseurin, die selbst in Istanbul geboren wurde und in İzmir erst Philosophie und dann Filmwissenschaft studierte, solidarisierte sich mit den Kurdinnen, den Heldinnen ihrer Filme. Sie spricht aus, was viele denken, sich aber derzeit nicht öffentlich zu erklären trauen. »Ich widme diesen Preis den Kindern von Şırnak, deren Leichen die Mütter in Kühltruhen lagern mussten. Wenn der Krieg in erster Linie Kinder und Frauen tötet, dann werden die Frauen den Frieden bringen.« Tosender Applaus belohnte das mutige Statement.
Verstärkt behelligt die türkische Justiz zurzeit Intellektuelle und Kulturschaffende mit Strafanzeigen. Wer sich öffentlich für den Frieden einsetzt, wird der Terrorpropaganda bezichtigt. Mehr als 1 000 Wissenschaftler unterzeichneten Mitte Januar den Aufruf an die türkische Regierung und den türkischen Präsidenten, die Gewalt gegen die Menschen in den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten des Südostens zu beenden. »Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen, besteht überhaupt kein Unterschied«, sagte Recep Tayyip Erdoğan am 15. März. Skandale wie im vergangenen Jahr, als 20 Regisseure ihre Filme zurückzogen, weil die Vorführung von »Bakur«, einer Dokumentation über PKK-Kämpferinnen, von der türkischen Regierung verboten worden war, ereigneten sich nicht. Unpolitisch war das Festival aber keineswegs. In diesem Jahr wurde erstmals ein Preis in der Kategorie »Menschenrechte« vergeben. Den Preis für die beste Dokumentation erhielt »Stillgestanden«, ein Film über einen Philosophiestudenten und seine Auseinandersetzung mit dem Militärdienst. Der 32jährige muss sich entscheiden, ob er sechs Monate dient oder sich freikauft. In dem Entscheidungsprozess reflektiert und hinterfragt Onur die Rolle des Militärs in der Türkei und die damit verbundenen archaischen Männlichkeitsmodelle. Der Regisseur Onur Bakır erzählt in dem Film seine eigene Geschichte und spielt auch die Hauptrolle.
Die Vorführung im Italienischen Kulturzentrum am letzten Tag des Festivals war fast ausverkauft. Vor allem junge Leute faszinierte die spannende persönliche Erzählform des Films, der alle Facetten des Konflikts beleuchtet. Murat, ein 25jähriger Physikstudent aus Istanbul ist Teil der Antimilitarismusbewegung in der Türkei. Für ihn steht jetzt schon fest, dass er weder zum Militär will noch sich freizukaufen gedenkt. »Ich finde den Film trotzdem sehr wichtig«, sagt er. »Das ist der erste Film, der aus der Perspektive eines Durchschnittbürgers erzählt wird, und so eine breite Masse von Leuten ansprechen kann.«
Tatsächlich machen die Aktualität der Filme und die Vielfalt der Themen den Reiz des Istanbuler Film-Festivals aus. Trotz des Abrisses des Emek-Kinos auf dem Yeşilçam-Boule­vard, das als zentrales Premieren- und Gala-Kino diente, trotz des Zensurskandals im vergangenen Jahr und trotz der Wasserwerfereinsätze gegen Demonstranten, die für den den Erhalt des Kinos demonstriert hatten, lässt sich die Istanbuler Kulturszene nicht den Mund verbieten. Die Preisvergabe huldigte in diesem Jahr vor allem den Aufmüpfigen und Unbequemen. Der Preis für den besten internationalen Film erhielt Rodrigo Plá aus Mexiko. Sein satirisches Sozialdrama »Das Monster mit den tausend Köpfen« erzählt vom Kampf einer Frau gegen die Versicherungs­gesellschaft, die die Krebsbehandlung ihres Mannes nicht bezahlen will. Selbst vor Waffengewalt schreckt die Protagonistin Sonia nicht zurück und bleibt für den Zuschauer trotz ihres tragischen Schicksals eine mitreißende Heldin.
Den Sonderpreis der Jury erhielt Brady Corbets Film »Die Kindheit eines Führers« nach der gleichnamigen Geschichte von Jean-Paul Sartre. Das düstere Drama um einen heranwachsenden Faschisten passt zu der Stimmung in der Türkei, die sich unter der Knute einer international gebilligten Diktatur befindet. Es sind deutliche Aussagen und Geschichten, die in Istanbul gerade Eindruck machen.
Nicht nur im Kino. Auch im Museum für zeitgenössische Kunst auf dem İstiklal-Boulevard begeistert der kurdische Künstler Şener Özmen mit der Ausstellung »Ungefiltert«. Er schuf die Kunstwerke in seiner Heimatstadt Diyarbakır unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes. Die Altstadt von Diyarbakır, in der Özmen sein Atelier hat, war wochenlang wegen andauernder Gefechte zwischen der PKK und den Sicherheitskräften abgesperrt, es herrschte ein Ausgangsverbot. Der international erfolgreiche Künstler installierte drei Holzgestelle auf einer Etage des Museums, die in den Kurdengebieten im Sommer als Schlafstätten auf den Dächern genutzt werden. Auf kleinen Gravuren sind sowohl mesopotamische Motive als auch Szenen aus dem Kriegsalltag zu sehen. Der Mord an dem Präsidenten der Anwaltskammer von Diyarbakır, Tahir Elçi, im Januar dieses Jahres ist dokumentiert, aber auch der Selbstmord eines Soldaten, der kopfüber von einem Wachturm springt.
Vielfalt und Grausamkeit spiegelt auch die Arbeit von Cengiz Tekin in der Galerie Pilot. Ein Video zeigt Flüchtlinge, die am Strand von Kilyos im Schwarzen Meer stehen. Kein Surferspaß, sondern ein zynisches Spiel um Leben und Tod, symbolisiert durch eine Skulptur, die eine Schwimmweste aus weißem Marmor darstellt und gegenüber der Video­leinwand gezeigt wird. Sie hat eine schöne weiße polierte Oberfläche, die keinen Nutzen hat. Die Installation heißt »Kurz vor dem Paradies«.