Das legendäre Berliner SO 36 als Coffee Table Book

Wenn der Notausgang als Lüftung dient

Die Chronik des legendären SO 36 in einem Coffee Table Book.

Das Buch zum Club hat 436 Seiten, wiegt 2 060 Gramm und kostet – was sonst? – 36 Euro. Der Einband aus roher Pappe fasst sich gut an, auf dem Cover ist schlicht der Schriftzug »SO36« zu sehen. Spätestens nach dem dritten Anschauen fransen die Ränder aus, erste Bier- und Kaffee­flecken sorgen für Patina.
2001 war ich zum ersten Mal drin im »Esso«. Damals spielte die US-amerikanische Post-Hardcore-Band At the Drive-In. Für mich war es auch Zeit, ich wohne schließlich nur den berühmten Steinwurf entfernt von dem legendären Club. Neugierig war ich und gespannt, doch auf Anhieb wollten sich die Geister der heiligen Halle nicht zeigen. Der lange Eingangsschlauch war schon mal beeindruckend düster, die Wände mit Plakaten zugeklebt, und schlauchförmig blieb es auch im Saal. Aber vom Mythos keine Spur. War dann aber auch egal, denn beim Konzert war es unglaublich voll, und statt Legenden nachzujagen, musste ich mich erst einmal ganz darauf konzentrieren, mir den Weg zur Theke zu erkämpfen. Viel zu ­viele Leute, aber eine intensive Atmosphäre. Dass genau das zum ­Mythos gehört, habe ich erst danach kapiert. Und der Punk, der vors Mischpult gekotzt hatte, sorgte für Achtziger-Jahre-Feeling.
Die Geschichte des SO 36 ist eine bewegte, mit vielen Brüchen und voller Anekdoten, die zum Kult-und Legendenstatus beitrugen. Wie das SO 36 wurde, was es heute ist, wird chronologisch nachgezeichnet: vom ehemaligen Kino über den Penny-Supermarkt bis zum Konzert-und Veranstaltungsort mit kaltem weißen Neonlicht, Bierdosenverkauf und einem Backstage-Bereich ohne Toiletten. Es gab legendäre Konzerte wie das der Dead Kennedys oder das von Black Flag und dazwischen fanden regelmäßig türkische Hochzeiten statt. Manchmal begegneten sich Punks und Hochzeitsgäste vor der Tür. Noch heute erzählt man sich, wie die szenebekannte Ratten-Jenny mal im Fußboden einbrach oder ein Gast an Weihnachten den Feuerlöscher einsetzte, um es im Club schneien zu lassen. Und immer wieder mündeten ­Konzerte in Auseinandersetzungen mit den in Kreuzberg liebevoll ­Bullen genannten Ordnungskräften. Weniger bodenständig ging es hingegen auf dem Atonal-Festival und bei avantgardistischen Theaterperfomances zu.
Mit den Neunzigern kamen neue Veranstaltungskonzepte und -reihen dazu, viele davon von der queer-schwul-lesbischen Bewegung geprägt. Diese luden im Café Fatal zum Standardtanz und machten das Parkett mit »Gayhane« zum Dancefloor. Mit solchen türkisch-arabischen schwul-lesbischen Partys hat der Club zur Entstehung einer einzigartigen Subkultur beigetragen.
Doch immer wieder hagelte es auch Kritik der »Szene«: Für die ­einen war das schon »Kommerzscheiße«, für andere alles nur »Kunstkacke«, provinzielles Kiez­gedöns gegen international be­deutsame Kulturveranstaltungen, schwul-lesbische Party gegen ­»Polit-Hetero-Macker*innen«.
Es sind vor allem die frühen Jahre, die den Ruf des SO 36 begründen. Der Club war damals wie der Bezirk und umgekehrt: Niemand wollte »was Festes«, dafür durfte man unprofessionell sein, aber mit Lust, einfach mal was auszuprobieren. Glamourös wurde das dann erst in der Erinnerung oder mit Unterstützung von Drogen. Schlägt man sich als künftiger Clubbetreiber heute mit Brandschutz, Marketingkonzept und Lärmverordnung herum, brauchte es 1978 nur einen alten hässlichen Supermarkt, einen versifften Fußboden und ein paar Leute, die bereit waren, ihre Bandproben auf einer improvisierten Bühne zu veranstalten. Vielleicht kam auch noch Publikum dazu. Schön war das nicht. Aber Charme braucht keine Schönheit. Natürlich gab es auch die gutbesuchten Konzerte, die Meilensteine subkultureller Musikgeschichte. Die waren dann gleich so überfüllt, dass nicht einmal die Musiker bis zur Toilette durchkamen, und stickig war es auch, da einzig der Notausgang als Lüftung diente. Wirklich legendäre Konzerte gibt es heute kaum noch, private Meilensteine dafür schon. Meine sind diese: At the Drive-In, Dead Moon, Cramps, EA80, No Means No und Die Goldenen Zitronen.
Das Buch versammelt Texte, Zeitungsausschnitte und viele wirklich schöne Bilder. Auch wer das SO 36 kennt, erfährt hier und auf der beigefügten DVD noch Neues. Manches, wie die Merhaba-Zeit, hätte man dabei auch gerne ausführlicher schildern können. Findet sich hier doch statt Multikulti ein frühes Beispiel für gelungene internationale Kooperation, als der damalige Betreiber Hilal Kurutan amerikanische Punkbands nach Berlin holte. Nach den unruhigen Jahren in den Achtzigern mit zeitweiser Schließung beginnt 1989 mit der Gründung des Vereins Sub Opus die langsame Professiona­lisierung. Probleme tauchen in den nuller Jahren dann noch einmal von unerwarteter Seite auf. So führt die Klage eines Anwohners wegen Lärmbelästigung beinahe zur Schließung des Clubs.
Neben den Beiträgen der Redaktionsgruppe wurden ehemals Beteiligte, Musiker und Leute aus dem Umfeld interviewt und um Textbeiträge gebeten. Im hinteren Teil sind hauptsächlich Grußbotschaften zum 36. Geburtstag vertreten; eine große Menge Lobeshymnen, in denen der x-te Musiker sagt, wie toll und familiär man von der SO-Crew betreut worden ist.
Aber besonders fühlt man sich im SO schon. Von der Steh-Sitzfläche am Rand des Saals hat man eine gute Sicht auf die Bühne und auf die Konzertbesucher (wo gibt es das sonst?). Einer fällt auf: Ist das nicht Dick Dale da vorne links vor der Bühne? Ja, ist er. Steht da und schaut sich ungestört seine Vorband an. Das ist nicht einfach nur Berliner Lässigkeit, das ist auch »Esso«. Andere haben da ganz andere Probleme mit ihrer Vorband. Beim EA80-Konzert fällt diese wegen Krankheit ganz aus, also springt die Band selbst ein und ist ihre eigene Vorband. Es ist Dezember, es gibt punkige Weihnachtslieder. So lässt sich das Fest aushalten.
Was den Club ausmacht, ist eine ambitionierte Crew, die sich idealistisch bei geringer Zahlung den Arsch aufreißt. Mit viel Liebe aufwendige Dekorationen baut, um am nächsten Tag stundenlang alles komplett umzubauen. Dabei immer politisches und soziales Engagement pflegt und ansonsten so anstrengend und durchgeknallt wie jedes linke Kollektiv ist.
Auch wenn die englische Übersetzung nervt – sie ist so zwischendrin platziert, dass sie den Lesefluss unterbricht – und die rote Schrift auf dem gelegentlich schwarzen Hintergrund schlecht lesbar ist: Es ist ein überfälliges Buch über die Geschichte einer wichtigen Institution der (West-)Berliner Subkultur.
Sub Opus 36. e. V.: SO 36. 1978 bis heute. Ventil-Verlag, Mainz 2016, 436 Seiten, 36 Euro