Das queere Berlin ist spannender als im Film »Desire Will Set You Free«

Szene essen Seele auf

In seinem ersten Spielfilm »Desire Will Set You Free« versucht Yony Leyser sich an einem Porträt des queeren Berliner Undergrounds. Leider bleibt es belangslos.

Im Mittelpunkt des autobiographisch angehauchten Dramas stehen drei Figuren, die auf der Suche nach sexueller Erfüllung durch Berlin streifen und in der queeren Szene ein hedonistisches Leben führen: Ezra (gespielt von Regisseur Yony Leyser), ein uninspirierter amerikanischer Autor; seine bisexuelle Freundin Catharine (Chloé Griffin), deren Bedürfnisse im Widerspruch zum Wunsch ihrer Partnerin nach einer monogamen Beziehung stehen; und der androgyne Sasha (Tim-Fabian Hoffmann), ein russischer Sexarbeiter, der neu in der Stadt ist und bald bei Ezra einzieht. Ezra führt Sasha in die Szene ein, und was als konventionelle schwule Beziehung beginnt, führt schließlich zu Sashas Coming-out als Transgender.
Leyser, der bisher als Dokumentarfilmer in Erscheinung getreten ist (»William S. Burroughs: A Man With­in«, 2010), mischt in »Desire Will Set You Free« publikumswirksam Einflüsse des queeren Kinos mit denen des derzeit wieder höchst angesagten Berlin-Films. Gedreht an Originalschauplätzen wie dem Silver Future, dem Roses oder dem About Blank, versammelt der Film Protagonisten der Szene, darunter bekannte Namen wie Peaches, Nina Hagen, Blixa Bargeld und Rummelsnuff vor der Kamera. Denselben kanonischen Eifer legt Leyser bei der musikalischen Ausgestaltung an den Tag, für die zeitgenössische Künstler wie Blood Orange und Starfucker klassische Berlin-Songs neu interpretiert haben.
Im Streifzug der Protagonisten durch die Clubs und Bars lassen sich nicht nur Verweise auf die subkulturelle Geschichte der Stadt finden. Der Film lädt auch dazu ein, sich Aspekte des bemerkenswert reichhaltigen queeren deutschen Filmschaffens zu vergegenwärtigen, das bis ins Jahr 1919 zurückreicht. Damals erschien Richard Oswalds Film »Anders als die Andern«, der zum Skandal wurde und eine Wiedereinführung der Filmzensur zur Folge hatte. Er gilt als der erste Film überhaupt, der offen Homosexualität behandelt. In ihrem bisher nur auf Englisch erschienen Standardwerk »The Queer German Cinema«, in dem sich Alice Kuzniar auch mit dem deutschen Kino der zwanziger Jahre befasst, beschreibt sie eine Vielzahl von Motiven geschlechtlicher Instabilität und sexueller Unlesbarkeit, in denen sie bereits einen Vorgriff auf das queere Empfinden der neunziger Jahre sieht; auch hebt sie die oft einfühlsame Zeichnung gleichgeschlechtlicher Zuneigung hervor.
Das schon in der Weimarer Republik beliebte Genre der Crossdressing-Komödie (»Viktor und Viktoria«, Regie: Reinhold Schünzel, 1933) sollte sich später im Nachkriegsdeutschland fortsetzen.
Wenig überraschend bedeutete der Nationalsozialismus einen Bruch in der Kontinuität nicht nur des queeren deutschen Kinos. In den sechziger und siebziger Jahren wurde mit Zarah Leander ausgerechnet der größte Star der nationalsozialistischen UFA zu einer Camp-Ikone; und für Rainer Werner Fassbinder, einen der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films, wurde der Regisseur Detlef Sierck zum Vorbild, der mit seinen frühen Filmen maßgeblich an Leanders Aufstieg beteiligt war und nach seiner Emigration 1937 in Hollywood unter dem Namen Douglas Sirk reüssierte. Einflüsse der Camp-Ästhetik finden sich zu dieser Zeit auch im Werk von Werner Schroe­ter und Rosa von Praunheim, der bis heute ein Inbegriff des schwulen deutschen Filmemachens und Mentor für gleich mehrere Filmemachergenerationen ist. In einer selbstironischen Nebenrolle ist Praunheim in »Desire Will Set You Free« zu sehen.
In den achtziger und neunziger Jahren findet sich queeres Filmschaffen in einer Vielzahl experimenteller und avantgardistischer Gruppen, die untereinander über gemeinsam genutzte Produktionsstrukturen und über schwul-lesbische Communities und Filmfestivals verbunden waren. All das wurde durch die leichter verfügbaren Produktionsmittel sowie durch die Film- und Kunsthochschulen im deutschsprachigen Raum befördert. Beispielhaft seien die Transgenderphantasien von Ulrike Ottinger und Monika Treut genannt. Letztere ist auch international als Protagonistin des New Queer Cinema in Erscheinung getreten.
Schon an diesem kurzen Abriss wird deutlich, dass der Aspekt des Queeren sich besser für die wiederkehrenden LGBT-Motive im deutschen Film eignet als der Begriff des Schwul-Lesbischen, der eine binäre Festschreibung der identitären Genderpolitik vornimmt. Er stellt die institutionelle Heteronormativität in Frage und verfügt dadurch über weitaus größeres gegenkulturelles Potential als die vielen schwulen und lesbischen Figuren, die im kommerziellen Kino gegenwärtig anzutreffen sind. Filme wie die hübsche Indie-Komödie »The Kids Are All Right« von Lisa Cholodenko (2010), in dem eine gleichgeschlechtliche Ehe in das brave bürgerliche Ideal der Familie eingebettet ist; »Brokeback Mountain« von Ang Lee (2006), der auch kommerziell ein Erfolg war, oder auch der Anfang des Jahres für den Oscar nominierte »Carol« von Todd Haynes, der die Liebe zweier Frauen als Melodram in Hochglanzoptik erzählt, arbeiten sich an binären Geschlechterrollen ab. Wenn sich ein Film dem Thema Transgender annimmt wie »The Danish Girl« von Tom Hooper (2015), der das Leben der intersexuellen Malerin Lili Elbe im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts beschreibt, dann wird das zwar aufwändig, aber auch mit großer exhibitionistischer Schaulust erzählt.
»Desire Will Set You Free« setzt solchen Erzählungen eine angenehme Selbstverständlichkeit von progressiven Transgender-Konzepten entgegen. Dafür leidet Leysers Szeneporträt an einer dramaturgischen Indifferenz, die dem Zuschauer kaum emotionale Nähe zu den Figuren ermöglicht und sich auch mit der postmodernen Vermischung von Spiel- und Dokumentarfilmanteilen nicht erklären lässt. Über den emanzipatorischen Aspekt seiner Coming-of-age-Geschichte hinaus zeigt der Film keinerlei Interesse an den Diskursen, die den Figuren und ihrem Handeln eingeschrieben sind und die zugunsten einer reinen Bebilderung nicht weiterverfolgt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass der Film in großer Regelmäßigkeit politische und historische Bezüge anschneidet, ohne sich dann aber mit ihnen auseinanderzusetzen.
Die Herkunft Ezras, der als »Amerikaner mit jüdisch-palästinensischen Wurzeln« beschrieben wird, thematisiert der Film nicht. Genauso wenig die Herkunft Sashas, der Russland aufgrund von Repressalien wegen seiner sexuellen Orientierung verlassen hat. Möglichen Zusammenhängen zwischen der Geschichte Berlins und seiner künstlerischen Avantgarde wird nicht nachgegangen und auch eine Verbindung zwischen den heutigen Party-Kids – Ezra ist immerhin Autor auf der Suche nach Inspiration – und vergangenen Berliner Avantgarde-Szenen, die durch das Auftauchen mancher ihrer Protagonisten naheliegend gewesen wäre, wird nicht hergestellt. So entsteht auch kein Diskurs über den Widerspruch zwischen der emanzipativen Kraft des transsexuellen Genderkonzepts und einer von Leyser anscheinend intendierten Kritik am Eskapismus der Szene im Kontext der deutschen Nation – bei einem Film, dessen Titel sich auf Auschwitz bezieht (der Regisseur erklärt »Desire Will Set You Free« als Anspielung auf »Arbeit macht frei«), ist das unverständlich und letztlich auch ärgerlich.
Unterm Strich erschöpft sich »Desire Will Set You Free« in einem konservativ bebilderten eklektizistischen Szeneporträt ohne großen Erkenntnisgewinn, aber mit immerhin dokumentarischem Wert.
Desire Will Set You Free. Regie: Yony Leyser. Darsteller: Yony Leyser, Chloé Griffin. Kinostart: 5. Mai 2016