Diktatorin von nebenan

Kim Yo-jong sieht aus, wie viele junge Frauen heute aussehen: Langer schwarzer Mantel mit Fellkragen, weiße Bluse, dunkle Pumps. Ihr dichtes Haar trägt sie zum Zopf gebunden. Sie könnte in einem Mailänder Café sitzen oder durch Londons mondänen Stadtteil Chelsea spazieren. In Pjöngjang, der Hauptstadt Nordkoreas, hingegen würde man sie nicht unbedingt vermuten. Kim Yo-jong, die 1987 in Pjöngjang geboren wurde, entstammt der Kim-Dynastie, jener Herrscherfamilie, die seit Generationen in Nordkorea an der Macht ist. Ihr Bruder ist Kim Jong-un, Nordkoreas derzeitiger Machthaber und Diktator. Zuvor hatte ihr Vater Kim Jong-il das Land bis zu seinem Tod 2011 geführt. Kim Yo-jong wuchs behütet auf. Obwohl sie sich die meiste Zeit im Hintergrund hält und ihrem aufmerksamkeitshungrigen Bruder die Bühne überlässt, ist Kim Yo-jong keinesfalls eine ungebildete Mitläuferin. Sie studierte gemeinsam mit dem vier Jahre älteren Kim Jong-un an einer Schweizer Eliteuniversität und bereiste eine Vielzahl an Ländern in Europa und Asien. Auch beruflich steht sie ihrem Bruder in nichts nach. Im November 2014 wurde sie mit nur 27 Jahren zur stellvertretenden Direktorin des Ministeriums für Propaganda und Agitation ernannt. Bereits im Mai 2015 stieg sie zu dessen Leiterin auf. Als Propagandabeauftragte sorgt sie für ein makelloses Image des Bruders bei der nordkoreanischen Bevölkerung. Sie schreibt seine Reden, plant und kontrolliert öffentliche Auftritte und entscheidet, welche Bilder des Diktators die Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner zu sehen bekommen. Angeblich kontrolliert sie sogar das Reisetagebuch ihres Bruders. Sie kreierte die Figur des volksnahen Staatsmannes. Durch ihre Heirat mit dem Sohn eines ranghohen Regierungsmitglieds wird die Macht der Familie weiter abgesichert.
Auf dem Kongress der Arbeiterpartei, der am Freitag voriger Woche begann, wurde sie in das Zentralkomitee aufgenommen. Der letzte Parteitag fand noch vor ihrer Geburt statt, vor 36 Jahren. Was genau beschlossen wurde, ist nicht klar. Zuviel fragen sollte man nicht, ausländische Journalisten waren zwar zugelassen, einige Mitarbeiter der BBC wurden jedoch wegen »unangemessener Berichterstattung« ausgewiesen. Nordkorea will seine Atommacht ausbauen, so viel steht fest. Viele Nordkoreanerinnen und Nordkoreaner hätten vermutlich lieber mehr zu essen, nach UN-Angaben leiden 70 Prozent der Bevölkerung unter Nahrungsmittelunsicherheit. Aber Kim Yo-jong wird ihren Untertanen unverdrossen weiter verkünden, dass es niemandem auf der Welt besser geht.