Erdoğan und die EU

Ein Despot geht seinen Weg

Der türkische Präsident baut seine Macht weiter aus. Die EU hat dem nichts entgegenzusetzen.

Am 4. Mai hat ein von der EU mit drei Millionen Euro gefördertes Projekt zur ethischen Unterweisung türkischer Richter begonnen. Man soll nicht sagen, die EU täte nichts. Nach Ablauf des Programms, so darf man wohl erwarten, werden türkische Bürgerinnen und Bürger, die im Internet Erdoğan kritisiert haben, sicher nicht mehr in Handschellen abgeführt und ins Gefängnis geworfen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan redet indessen nicht lange um den heißen Brei herum. »Wir gehen unseren Weg, geht ihr euren!« rief er den EU-Vertretern Freitag vergangener Woche in öffentlicher Rede zu und kassierte das Abkommen über Visumsfreiheit, das ihnen so schwer gefallen war und wofür sie nun offenbar einigen Dank erwarteten. Doch Erdoğan will die als Gegenleistung geforderte Entschärfung der Antiterrorgesetze nicht liefern. Selbst vor dem Abgang von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der am 5. Mai auf dem Sonderparteitag der Regierungspartei AKP erklärt hatte, nicht mehr für den Parteivorsitz zur Verfügung zu stehen, war es schon naiv zu glauben, dass Erdoğan sich seine Allzweckwaffe gegen die Opposition nehmen lassen würde. Vielleicht hätte man sich ja in Brüssel mit einer oberflächlichen Liberalisierung begnügt und wer weiß, vielleicht kommt ja noch ein Vorschlag zur Güte. Die Türkei geht indessen wirklich einen eigenen Weg. Erdoğans Weg.
Der Präsident, der mit seinem Amtseid geschworen hat, parteipolitisch neutral zu sein, drängt den vor fünf Monaten gewählten Ministerpräsidenten mittels seiner Partei nicht anders aus dem Amt, als es die Militärmachthaber 1997 mit dem Islamistenführer Necmettin Erbakan getan haben. Zudem hob das Parlament vorige Woche die Immunität der Abgeordneten auf, mit dem klaren Ziel, zwei Drittel der kurdischen Opposition mit politischen Anklagen ins Gefängnis zu stecken.
Der türkische Soziologe Bülent Küçük vergleicht Erdoğans Türkei mit einem Unternehmen, in dem der Manager an der Spitze möglichst rasch handeln können soll. Doch der Vergleich trifft die Sache nicht ganz, denn die Person an der Spitze ist nicht austauschbar. Mehr als modernem Management gleicht Erdoğans Staat einem Gutshof, auf dem ein Feudalherr persönlich regiert und verehrt wird, so wie es am Ende des ersten langen Satzes im Koran heißt: »Dich beten wir an und von dir erwarten wir Hilfe!«
Bereits vor zwölf Jahren hat Erdoğans Partei AKP damit begonnen, sich das Inventar an Gesetzen zu schaffen, das ihr heute, neben dem Ausbau der eigenen Medienmacht durch Unternehmer, die von staatlichen Aufträgen profitieren, dazu dient, Kritik und Opposition immer weiter auszuschalten. Der erste Schritt war das neue Strafrecht von 2004. Dann kamen das Antiterrorgesetz und das Referendum von 2010, das durch verschachtelte Regelungen die der Unabhängigkeit der Justiz untergrub.
Diese Kontinuität widerlegt zwei beliebte Thesen: Zunächst die These, dass die AKP die Demokratisierung aufgegeben habe, weil eine Vollmitgliedschaft in der EU ohnehin aussichtslos wurde. Das neue Strafrecht und die Antiterrorgesetze wurden nämlich eingeführt, als die Beziehungen zur EU so gut waren wie nie zuvor und wie sie bis heute nicht wieder geworden sind. Die zweite These besagt, dass die EU Erdoğan die Unterdrückung der Medien und so manches andere nur durchgehen lässt, weil man Angst davor hat, dass die Türkei in der Flüchtlingsfrage nicht mitspielt. Die Flüchtlingsphobie der europäischen Politik spielt sicher eine Rolle, doch im Grunde übersieht man die Tendenz zur Willkürherrschaft in der türkischen Politik seit langem oder bekämpft sie mit heißem Tee.