Schwere Vorwürfe gegen die Stuttgarter Polizei nach den Protesten gegen den Parteitag der AfD

Erkennbar unfriedliche Polizisten

Bis zu 1 500 Antifaschistinnen und Antifaschisten beteiligten sich vor knapp zwei Wochen an Blockadeversuchen gegen den Parteitag der AfD in Stuttgart. Über 600 von ihnen kamen in Gewahrsam. Etliche erheben nun schwere Vorwürfe gegen die Polizei.

Schon am Morgen ließ sich erahnen, dass die Polizei die Proteste gegen den AfD-Parteitag an der Stuttgarter Messe nicht für wünschenswert hielt. Bereits um sieben Uhr früh kesselten behelmte Einheiten unter den drohenden Rohren von zwei Wasserwerfern etwa 600 Blockierer in der Nähe des Tagungsorts ein. Von diesem Moment an befanden sich diese Personen in polizeilichem Gewahrsam, den viele von ihnen erst nach über zwölf Stunden verlassen sollten.
Bis zum Zeitpunkt der Einkesselung war es zu keinen direkten Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten gekommen. Die Antifaschisten hatten kurzzeitig einen Kreisverkehr blockiert, kleine Barrikaden errichtet und Pyrotechnik gezündet. Angriffe mit Eisenstangen, wie von der Polizei später als Begründung für ihre Maßnahmen angegeben, gingen von dieser Gruppe nicht aus. Eine andere Gruppe Protestierender entzündete Autoreifen auf einer nahegelegenen Autobahn.
Teils unter Einsatz von Schmerzgriffen fesselten Polizeibeamte die Arme der Protestierenden mit Kabelbindern hinter dem Rücken. In Bussen wurden die Gefesselten in eine Messehalle gefahren, die mit Sammel- und Einzelzellen, Ermittlungsbüros und Kontrollstationen ausgestattet war. Wie aus Berichten mehrerer Gefangener hervorgeht, warteten manche von ihnen dort bis zu sieben Stunden in Bussen oder in der Halle teilweise gefesselt auf eine »Bearbeitung«, andere wurden umgehend in Zellen gesperrt. In Gefangenentransportern gab es sowohl Einzel- als auch Zweier- und Viererzellen, die auch überbelegt wurden. Fünf Sammelzellen waren den Berichten in Gewahrsam genommener Antifaschisten zufolge aus Bauzäunen, jeweils einer mobilen Toilette und dünnem Teppichboden errichtet worden. Die Polizei belegte jede Zelle mit bis zu 40 Personen. Beamte verteilten dort Brote, Bananen und Getränke.
Alle AfD-Gegner wurden im Gewahrsam einer sehr genauen Personenkontrolle unterzogen, einige mussten sich vollständig entkleiden. Polizisten nahmen ihnen sämtliche persönliche Gegenstände ab und fertigten Videoaufnahmen von ihren Körpern an. Manche Personen wurden zudem erkennungsdienstlich behandelt, es wurden also Fingerabdrücke abgenommen und Körpermaße notiert. Zu diesem Zeitpunkt erfuhren die in Gewahrsam genommenen Antifaschisten erstmals von den Vorwürfen, die ihnen gemacht wurden: Landfriedensbruch, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Widerstand, Beleidigung, Nötigung.
Zurzeit erheben aber hauptsächlich Gefangene Vorwürfe gegen die Polizei. So berichten mehrere Frauen davon, dass Polizisten sie mit Worten wie »Süße«, »Kleine« oder »hübsche Südländerin« angesprochen hätten. Eine solche Situation beschreibt auch Klara*, die über Stunden mit Kabelbindern gefesselt in einem Kleinbus mit getönten Scheiben und ohne Zugang zu einer Toilette, Essen und Wasser ausharren musste. Sie berichtet der Jungle World, ihre Durchsuchung habe in einem Zelt mit geöffnetem Eingang stattgefunden und sie sei dazu gedrängt worden, sich nackt auszuziehen – trotz des Hinweises auf ihre Periode. Dies sei im Beisein männlicher Polizisten geschehen, die mit sexistischen Sprüchen ihren Körper kommentiert hätten, so die junge Frau. Anschließend sei sie mehrfach dazu aufgefordert worden, sich vor laufender Kamera mit mitgebrachtem Schal, Sonnenbrille und Kapuze in verschiedenen Kombinationen zu kleiden. Da sie sich geweigert habe, hätten Polizisten sie angekleidet, sagt Klara.
Zwar behauptete ein Sprecher der Polizei Reutlingen gegenüber der Stuttgarter Zeitung, dass »massenhaft Damenhygieneartikel beschafft« worden seien. Doch neben Klara berichten weitere Frauen davon, dass ihnen trotz mehrfachem Hinweis auf ihre Periode der Zugang zur Toilette, zu Waschmöglichkeiten und Hygieneartikeln verwehrt worden sei. Dennoch mussten sich etliche dieser Frauen nach Informationen der Jungle World in einem Durchsuchungszelt bis auf die Unterwäsche oder sogar vollständig entkleiden.
Besonders junge Menschen scheinen zum Ziel schikanierender Behandlung geworden zu sein. Von mehreren Stunden in einer Einzelzelle ohne funktionierende Lüftung berichtet der minderjährige Thomas* der Jungle World. Der Asthmatiker, dessen Spray ihm eigenen Aussagen zufolge trotz Einspruchs abgenommen wurde, litt unter Atemnot und Panikattacken, die ihn mehrfach dazu zwangen, einen Notfallknopf zu drücken. Doch es kam zu keiner oder nur einer sehr verspäteten Reaktion der Polizisten. Mehr noch: Nachdem er einige Zeit um Hilfe gebeten hatte, wurde der Notfallknopf ausgeschaltet. Erst nachdem er über einen langen Zeitraum lautstark auf seinen immer kritischeren Zustand hingewiesen habe, sei ihm ärztliche Hilfe gewährt worden, berichtet der Jugendliche. Vor einer Haftrichterin angekommen, wurde Thomas seinen Angaben zufolge unter Druck gesetzt, alle Informationen zu seiner Anreise, dem Kauf der Bustickets und seiner Reisegruppe preiszugeben. Die Richterin drängte ihn zu einer Aussage mit Verweis auf die angeblich bereits erfolgten Aussagen seiner Freunde. Als Thomas dies verweigerte, ordnete die Richterin Gewahrsam bis zum folgenden Abend um acht Uhr an – unterstrichen mit den Worten: »Ich wünsche einen schönen 1. Mai hier bei uns.«
Die Personen in den Sammelzellen ließen sich ebenso wenig wie Thomas einschüchtern. Sie riefen Parolen und sangen Lieder. Als Reaktion darauf postierten sich Polizisten mit ausgefahrenen Teleskopschlagstöcken um die Zellen und schlugen in manchen Fällen wiederholt gegen die Gitter.
Nicht nur Gegner der AfD erheben Vorwürfe gegen die Polizei. Auch die »Deutsche Journalistinnen- und Journalistenunion« (DJU) in der Gewerkschaft Verdi kritisiert das Verhalten der Beamten scharf. Drei Journalisten befanden sich in Stuttgart bis zu elf Stunden lang teils gefesselt in Gewahrsam. Einer von ihnen erlitt einen Kreislaufzusammenbruch und musste im Krankenhaus behandelt werden. Die DJU kündigte rechtliche Schritte an.
Die Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative«, die zum Protest gegen den AfD-Parteitag aufrief, bezeichnet es als Skandal, dass »die Polizei durch ihr unverhältnismäßiges Vorgehen und mit offensichtlich vorgeschobener Begründung hunderte Menschen von der Teilnahme an der Demonstration und damit der Ausübung ihrer Versammlungsfreiheit ausgeschlossen hat«. Sie sieht den Tag dennoch als Erfolg, da der Ablauf des Parteitags durch den Protest verzögert worden sei. Gesicherte Zahlen über verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten gibt es derzeit nicht, auf zahlreichen Bildern im Internet sind jedoch Verletzte zu sehen.
Die Schilderungen der Polizei Reutlingen widersprechen den Augenzeugenberichten jedoch gänzlich: Die Einkesselung von ungefähr 600 »erkennbar unfriedlichen« Personen sei notwendig gewesen. Zwei der etwa 1 700 eingesetzten Beamten hätten sich durch »unmittelbare Einwirkung gewaltbereiter Störer leicht verletzt«. Der Zugang zu Wasser, Essen und ärztlicher Versorgung sei jederzeit gewährleistet gewesen. Aufgrund von »mehreren gewalttätigen Ausschreitungen und Blockadeaktionen durch das überwiegend linksautonome Spektrum«, so die Formulierung in einer Mitteilung der Polizei Reutlingen, darunter Leuchtraketenbeschuss von Polizeibeamten und brennende Autoreifen auf der nahegelegenen Autobahn, sei der Einsatz voll und ganz gerechtfertigt gewesen. Wie aus den Angaben der Polizei hervorgeht, wurden 460 Strafverfahren eingeleitet und über 500 Platzverweise erteilt.
Die Polizei hält ihr Vorgehen selbstverständlich für rechtmäßig. Gerichte könnten zu anderen Urteilen kommen. Fragwürdige Maßnahmen sind beispielsweise die kollektive Gewahrsamnahme von etwa 600 Personen wegen Straftaten, die einzelne eventuell begangen haben, und die Vernehmung unter Druck vor der Haftrichterin. Zudem nannte die Polizei den Gefangenen über Stunden hinweg nicht den Grund für die Maßnahme, dem Polizeigesetz zufolge hätte dies jedoch unverzüglich erfolgen müssen. Gerade dies war in der Vergangenheit schon Grund für hohe Schadenersatzzahlungen, die die Polizei nachträglich leisten musste.
*Namen von der Redaktion geändert