Drei Jahre NSU-Prozess. Eine Bilanz

NSU: Was wusste der Staat?

Nach drei Jahren Prozess gegen Beate Zschäpe und acht parlamentarischen Untersuchungsauschüssen zum NSU-Komplex ziehen kritische Beobachter und Beobachterinnen ein ernüchterndes Fazit. Den Verfassungsschutzämtern wird Hinhaltetaktik und Vertuschung, der Generalbundesanwaltschaft ein begrenztes Aufklärungsinteresse vorgeworfen.

Am Freitag vergangener Woche jährte sich der Beginn des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht München zum dritten Mal. Damit waren es bislang insgesamt 280 Verhandlungstage, in deren Verlauf die Aufmerksamkeit für das Geschehen im Mammutprozess um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) merklich abgenommen hat. Das mag auch daran gelegen haben, dass sich der Prozess schleppend dahinzieht. Mit einem Urteil vor der Sommerpause ist nicht mehr zu rechnen.
Zuletzt stand die Frage im Mittelpunkt, ob V-Personen der Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz in das breite Netzwerk des NSU involviert waren. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den vom Bundesamt für Verfassungsschutz geführten V-Mann »Primus« alias Ralf Marschner. Dieser war bis Mitte der nuller Jahre fester Bestandteil der militanten Neonaziszene Sachsens – als Sänger der Band »Westsachsengesocks« und Veranstalter einschlägiger Konzerte, Herausgeber mehrerer Fanzines und Betreiber von Läden, Kneipen sowie einer Baufirma. Unabhängige Beobachter und Beobachterinnen vermuteten schon länger, dass der Neonazi aus dem sächsischen Zwickau engere Verbindungen zum Kerntrio des NSU besaß, als bislang aktenkundig ist.
Nun legen Recherchen von ARD und Welt nahe, dass Marschner den damals flüchtigen Uwe Mundlos mit falschen Papieren in seinem Bauunternehmen beschäftigte. In einer gemeinsamen Presseerklärung fordern Vertreter und Vertreterinnen der Nebenklage die »umfassende Aufklärung der Rolle von Ralf Marschner« im NSU-Komplex. In dem Münchner Prozess haben sie beantragt, Marschner zu laden, um zu beweisen, dass dieser die drei Flüchtigen, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, kannte sowie von ihrem Aufenthalt in Zwickau wusste. Neben dem Beschäftigungsverhältnis mit Mundlos, das in die Zeit von Marschners V-Mann-Tätigkeit fällt, sollen weitere Verbindungen zum NSU-Kerntrio untersucht werden: Etwa mehrere ungeklärte Autoanmietungen, die im Zusammenhang mit den NSU-Morden stehen, sowie die Frage, ob auch Zschäpe in einem weiteren von Marschner betriebenen Laden beschäftigt gewesen ist. Aussagen ehemaliger Angestellter in einem Ladengeschäft Marschners legen nahe, dass sich Zschäpe ungefähr zwischen 2005 und 2007 regelmäßig dort aufgehalten, möglicherweise auch dort gearbeitet hat.
Die Verbindung von Marschner zum NSU-Kerntrio rückt erneut die Frage in den Raum, was Ermittlungsbehörden und Geheimdienste bereits vor 2011 über die Existenz des NSU gewusst haben. Marschner arbeitete über insgesamt zehn Jahre, von 1992 bis zu seinem Abschalten 2002, für das Bundesamt für Verfassungsschutz. In diese Zeit fällt das Abtauchen von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt im Januar 1998 sowie der Umzug der drei nach Zwickau Mitte 2000. Doch was genau Marschner an seinen V-Mann-Führer weitergab, bleibt bislang unklar. Schließlich wurden die entsprechenden Daten bereits 2010, lange vor Ablauf der notwendigen Frist, im Bundesamt gelöscht. Verfahrensbeteiligte gehen davon aus, dass sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz als auch die Landeskriminalämter von Sachsen und Thüringen durch Marschner über Informationen zum Trio verfügten – und das zu einem Zeitpunkt, als durch ein Einschreiten der Behörden die Fortsetzung der Mord- und Anschlagsserie hätte verhindert werden können.
Die Vertreter und Vertreterinnen der Nebenklage kritisieren das Verhalten der Bundesanwaltschaft als anklagender Behörde – sie habe »systematisch V-Männer und den Verfassungsschutz aus der Anklage herausgehalten«. Zugleich fordert die Nebenklage vom Bundesamt für Verfassungsschutz die Freigabe sämtlicher vorhandener Akten zur Rolle Marschners. Die Vertreter und Vertreterinnen der Nebenklage kritisieren zudem den Umstand, dass mit dem Strukturermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft ein paralleles Ermittlungsverfahren zum NSU läuft, in das sie keinen Einblick haben. Dort würden Ermittlungen geführt und Beweise gesammelt, die für das laufende Verfahren wie derzeit im Fall Marschners eine Rolle spielen könnten – und der Bundesanwaltschaft damit einen Wissensvorsprung gegenüber allen anderen Verfahrensbeteiligten verschafften.
So tritt die Bundesanwaltschaft den Rechercheergebnissen zur Rolle Marschners öffentlich entgegen. Die Karlsruher Behörde behauptet, den Hinweisen nachgegangen zu sein – im Rahmen eben jenes Strukturermittlungsverfahrens, in deren Fortgang nur sie selbst Einblick hat.
Doch nicht nur der Prozess in München schleppt sich dahin. Auch die Arbeit der derzeit fünf Untersuchungsausschüsse im Bundestag und den Landtagen von Nordrhein-Westfalen, Hessen, Thüringen und Sachsen fördert nur wenige neue Erkenntnisse zu Tage. Stattdessen ärgern sich auch hier die Ausschussmitglieder mit Hinhaltetaktiken und nicht vollständig zur Verfügung gestelltem Aktenmaterial herum. Überraschend für Beobachterinnen und Beobachter der schleppenden staatlichen Aufklärung im NSU-Komplex ist einzig die erstmalige Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in Brandenburg. Dort beschloss der Landtag Ende April einstimmig die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Verbindungen des NSU nach Brandenburg sowie die Ermittlungsarbeit Brandenburger Behörden in Hinsicht auf die organisierte extreme Rechte allgemein und den NSU im Besonderen untersuchen soll. Im Kern der Untersuchung werden hier der vom Brandenburger Landesamt für Verfassungsschutz geführte V-Mann »Piatto« alias Carsten Szczepanski sowie Verbindungen möglicher Waffenlieferungen nach Brandenburg stehen. Szczepanski berichtete bereits 1998 seinem V-Mann-Führer von Überlegungen des Trios, sich ins Ausland abzusetzen, und benannte namentlich Unterstützer und Unterstützerinnen. Erst nach längeren Auseinandersetzungen mit dem Landesamt erhielt der ehemalige V-Mann die Genehmigung, als Zeuge vor dem Gericht in München gehört zu werden. In seiner Aussage schob er dann Erinnerungslücken und eine nicht gegebene Aussagegenehmigung seitens des Brandenburger Landesamtes für Verfassungsschutz vor und bestätigte damit einmal mehr, dass die Ergebnisse der Befragung von ehemaligen Szeneangehörigen vor dem Gericht mit großer Vorsicht zu betrachten sind.
Dies mag ein Grund dafür sein, dass man sich in den meisten der insgesamt acht parlamentarischen Untersuchungsausschüsse parteiübergreifend darauf verständigt hat, keine ehemaligen oder derzeitigen Angehörigen der Neonaziszene anzuhören. Eine Ausnahme bildet Hessen, wo in den vergangenen Monaten mehrere Neonazis als Zeugen in öffentlicher Sitzung gehört wurden. Nach der Befragung der ersten beiden Zeugen aus der Szene fiel die Bilanz der unabhängigen Beobachtungsstelle »NSU-Watch Hessen« kritisch aus: »Die beiden Zeugen konnten sich als unpolitische Mitläufer inszenieren, obschon sie in Strukturen aktiv waren, in denen menschenverachtende Gewalt und eine völkisch-nationale und rassistische Ideologie auf der Tagesordnung standen.« Ähnlich wie beim Prozess in München zeigten auch die Zeugen in Hessen, dass die Neonaziszene ganz sicher kein Interesse daran hat, an einer Aufarbeitung des NSU-Komplexes mitzuwirken.
Zu einem ernüchternden Fazit kommt auch »NSU-Watch Baden-Württemberg«. Die Initiative, die von Anfang 2015 bis Anfang 2016 die Arbeit des dortigen Untersuchungsausschusses begleitete und dokumentierte, beklagt ein weitgehendes Desinteresse in großen Teilen der antifaschistischen Linken. Zeitweise hätten auf der Zuschauertribüne des Untersuchungsausschusses mehr Angehörige von Polizei und Inlandsgeheimdienst als kritische Beobachterinnen und Beobachter gesessen. »Das ist peinlich, traurig und beschämend zugleich.«
Stattdessen ist auf Internetseiten antifaschistischer Gruppen von einem allgemeinen »Zeugensterben« die Rede und es finden sich Forderungen wie »Kein sechster toter Zeuge«. Doch von einem »Zeugensterben« zu reden, wird dem derzeitigen Wissensstand über ungeklärte Todesfälle im NSU-Komplex nicht gerecht (Jungle World 12/2016). Die Analogie zur Forderung von Angehörigen der NSU-Mordopfer, die 2006 in Kassel und Dortmund unter dem Motto »Kein 10. Opfer« auf die Straße gingen, verbietet sich.