Eine Kulturgeschichte des Populismus

Silent Majority

Eine Kulturgeschichte des Populismus unter besonderer Berücksichtigung des Erfolgs von Donald Trump.

It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine)« Als dieser Song von R.E.M. 1987 zum Hit wird, ist der Gedanke, dass Donald Trump mal Präsident der USA werden könnte, ungefähr so weit weg wie das Ende der Welt. 2015 eröffnet der Republikaner seine Wahlkampfshow mit genau diesem Song. Und beweist abgründigen Humor. Schließlich gilt: Je mehr Leute Trumps Kandidatur für das Ende der Welt halten, desto besser fühlt sich Trump. Weniger gut fühlen sich die Musiker von R.E.M. Sie untersagen dem Kandidaten die Verwendung des Songs, ihr Sänger Michael Stipe unterstützt Bernie Sanders von den Demokraten als Kandidaten. Auch Adele war not amused, dass ihr Welterfolg »Rolling in the Deep« bei Trumps Auftritten gespielt wird. »Adele hat für die Verwendung ihrer Musik bei politischen Wahlveranstaltungen keine Erlaubnis erteilt«, erklärte ihr Management. In den USA darf der rechtmäßige Eigner eines Songs die Verwendung untersagen. Besitzer ist in der Regel entweder der Musiker selbst oder sein Musikverlag. Wie Adeles »Rolling in the Deep« ist »Dream On« von Aero­smith eigentlich ein unpolitisches Lied. Aber, wenn man denn will, kann man bei »Dream On« an den Traum des Donald Trump denken: Let’s make America great again.
Für Steven Tyler, den Sänger von Aerosmith, ist es eher ein Albtraum, dass Trump sein Lied im Wahlkampf einsetzt. Dabei ist Tyler selbst Mitglied der Republikaner. Populisten wie Trump geht es selbstverständlich nicht um den politischen Inhalt eines Songs: Kampagnenfähig ist, was populär ist und mitgrölbar. »Rockin’ in the Free World« zum Beispiel. Mit diesem Song kritisiert Neil Young 1989 eigentlich den damaligen Präsidenten George Bush Senior. Am Ende des Kalten Krieges wird der kämpferische Refrain aber auch gerne mal missverstanden als Triumphgeheul der »freien« westlichen Welt über den geschlagenen Ostblock. Auch diesen Song darf Trump nicht mehr im Wahlkampf verwenden. Der gebürtige Kanadier Neil Young würde übrigens Bernie Sanders wählen, wenn er dürfte. Auch der vorerst letzte Fall einer feindseligen Umarmung durch Trump entbehrt nicht einer gewissen Ironie: das Teenager-Melodram »Leader of the Pack«, ein Evergreen der Sixties-Girl Group The Shangri-Las. Der Song handelt von der verbotenen Liebe des braven Mädchens zum bösen Jungen, dem »Leader of the Pack», dem Anführer einer Motorradgang. Wenn die besorgten Eltern von »Pack« reden, dann meinen sie das ungefähr so liebevoll wie Sigmar Gabriel, wenn er Pegida-Fans als Pack bezeichnet. Allerdings sind die Eltern bei den Shangri-Las in ihrer Haltung zum Pack weniger wankelmütig als der SPD-Chef. Der – ganz kognitive Dissonanz auf zwei Beinen – hatte zwischendurch ja auch mal versucht, sich dem Pegida-Pack auf dem Wege der Gesprächstherapie zu nähern.
Wenn Trump nun gegen den Willen der Shangri-Las deren »Leader of the Pack« bei seinen Shows spielt, dann ist das ein vergleichsweise smarter Zug. Schaut her, sie haben uns ausgelacht, sie haben uns durch den Dreck gezogen, aber am Ende werden wir triumphieren, ihr seid das Pack und ich bin euer Führer. Und die Massen ziehen sich den Schuh an: Wir sind das Pack. Es ist das Comeback der silent majority. »Die Leute haben die Nase voll von inkompetenten Politikern, die nichts auf die Reihe kriegen. Ich sage euch: die schweigende Mehrheit ist wieder da und wir werden das Land wieder groß machen.« So lautet das Mantra Trumps.
Als »the silent majority« bezeichnete »der gerissene Betrüger Richard Nixon« (Marshall Lewis) die Klientel, auf deren Gunst seine Präsidentschaft beruhte. Performativ wie inhaltlich orientiert sich Trump mindestens so sehr an Nixon wie an Ronald Reagan. Anders gesagt: In Trump vereinigen sich Reagan und Nixon als »good cop & bad cop«.
Alle drei Politiker bauten beziehungsweise bauen auf die Renitenz und Resistenz der silent majority gegenüber dem, was diese mal Mainstream nennt, mal Lügenpresse oder mal die veröffentlichte Meinung; auf die Immunität der weißen silent majority im Herzen der USA gegenüber dem, was da in den Küstenmetropolen von Freaks und Intellektuellen bevorzugt afroamerikanischer oder jüdischer Provenienz an sogenannter Kultur produziert wird. Wobei es Trump wundersamerweise gelingt, seine eigene Verstrickung in die New Yorker Unterhaltungs- und Immobilienindustrie aus dem Spiel zu halten. In einer interessanten dialektischen Volte gibt er den Super-Tycoon, den die silent majority nur deswegen nicht hasst, weil er das – angeblich jüdisch dominierte – Tycoon-Establishment mit bloßen Fäusten auf die Bretter schickt, wrestling style.
Im Vertrauen auf die silent majority reüssieren alle drei, Reagan, Nixon und Trump, als Antagonisten gegen vermeintlich linke Hegemonien. Reagan wird 1966 zum Gouverneur von Kalifornien gewählt und legt als fleischgewordener Fels in der Brandung der multiplen Revolten aus Protest-, Anti-Kriegs-, Sex & Drogen & Rock ’n’ Soul-Milieus den Grundstein für seine spätere Präsidentschaft. Ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen Gesellschaft, den die Dead Kennedys in einen Songtitel fassten: We’ve Got a Bigger Problem Now … als selbstgenügsam neokonformistische Hippies zu bekämpfen. Jene Hippies, gegen deren angebliche kulturelle und mediale Definitionsmacht Richard Nixon sich im Namen der silent majority in den Siebzigern mit gesundem Menschenverstand – und einer gewissen kriminellen Energie – zur Wehr setzte. Trump wiederum geht gegen die Späterrungenschaften der Polit-Hippies und ihre heutigen Erben vor: Er leistet Widerstand gegen die Diktatur der political correctness.
An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück. Wie war das eigentlich wirklich, damals, 1968? Wie spiegelt sich das Jahr der Revolte in der deutschen Hitparade? »Macht kaputt, was euch kaputt macht« von Ton, Steine, Scherben? Nein, das kommt später. »Street Fighting Man« von den Rolling Stones? Platz 40 der Jahrescharts. »Revolution« von den Beatles? Nix da, zumal das, wie der »Street Fighting Man«, alles andere war als ein Ruf zu den Waffen. Nein, erfolgreichster Sänger 1968 ist Heintje, ein zwölfjähriger Holländer mit einem Liebeslied. Für seine Mama. Hinter »Mama« rangiert auf Platz zwei »Du sollst nicht weinen« und auf vier »Heidschi Bumbeidschi«, alles Heintje, dazwischen auf drei Tom Jones. Im Jahr der Aufbrüche geben die werktätigen Massen ihr hart verdientes Geld für das aus, was der britische Pop-Historiker Jon Savage »Mums & Dads records« nennt. Auf Rang fünf der Charts von 1968 steht »Der letzte Walzer« von Peter Alexander. Amerikas Heintje 1966 heißt Barry Sadler. Anders als das holländische Mamakind hatte er den Stimmbruch schon hinter sich und eine Kriegsverletzung dazu. Im Mai 1965 tappt Staff Sergeant Barry Sadler im vietnamesischen Dschungel in eine giftige Bambustrittfalle. Für das Mitglied der US Army Special Forces, ihrer Kopfbedeckung wegen Green Berets genannt, ist der Krieg vorbei. Im Lazarett fängt er an, Songs zu schreiben. Einer davon feiert im Marschrhythmus den Mut der Soldaten, die nicht nur meinen, was sie sagen, sondern auch furchtlos springen. Wenn’s sein muss in den Tod: »Fearless men who jump and die«. »The Ballad Of The Green Berets«, die patriotisch-militaristische Hymne auf die Eliteeinheit – »America’s best« – klettert am 5. März 1966 an die Spitze der US-Charts und wird »the biggest American hit« des Jahres 1966. Protestsongs hin oder her, die schweigende Mehrheit steht noch hinter dem Krieg in Vietnam. Diese Geschichte erzählt Jon Savage in »1966: The Year the Decade Exploded«. In zwölf Kapiteln – eins für jeden Monat – rekapituliert der Pop-Chronist (»Teenage – Erfindung der Jugend«, »England’s Dreaming«) das Jahr, in dem die Dekade explodierte, aber eben auch immer mal implodierte, gewissermaßen. Wie im Fall des singenden Sergeanten Sadler. »›Green Berets‹ war so erfolgreich, weil es ein Protestvotum war«, sagt Jon Savage: »Für Patriotismus, für den Krieg, für traditionelle amerikanische Werte und gegen all die langhaarigen Kreaturen, die sich ausbreiten in den Jugendmedien und im Fernsehen.« Auch die BRD hat 1966 ihre schweigende Mehrheit: für Patriotismus, für traditionelle deutsche Werte, weniger für den Krieg, die große Niederlage ist ja erst 20 Jahre her. Mit ihrer »Green Berets«-Cover-Version »Hundert Mann und ein Befehl« weckt Heidi Brühl schmerzhafte Erinnerungen. Die Schlager-Blondine schlüpft in die Rolle der bange wartenden Soldatenbraut. Macht Platz acht in den Charts. Auf Platz eins landet der beliebte Matrosendarsteller Freddy Quinn. Er singt: »Hundert Mann und ein Befehl/und ein Weg, den keiner will/tagein tagaus, wer weiß wohin/verbranntes Land und was ist der Sinn.« Freddy Quinn zweifelt am Sinn des Krieges, wenn auch im straff militärischen Duktus. Im selben Jahr macht sich Quinn, der Österreicher in Hamburg, noch einmal zum Sprecher der schweigenden Mehrheit. In seinem Stück heißt es: »Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir!/Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? Wir!/Ihr lungert herum in Parks und in Gassen,/wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? Wir! Wir! Wir!« Einfach nur »Wir«, so heißt der Song, mit dem Freddy all denen aus der Seele spricht, die genug haben von Gammlern und Hippies, von Pazifisten und Antiautoritären. 50 Jahre später wird wieder »Wir« gerufen im deutschen Volk.
»Wer zahlt für Euch die Steuern,/wen könnt Ihr einfach feuern,/hat keinen Cent in seiner Tasche,/und hängt deshalb an der Flasche?/Wer wird jahrelang von Euch betrogen,/nach Strich und Faden ausgezogen,/wer soll dann auch noch wählen gehen,/und darf dann in die Röhre sehen?/Wir, wir sind das Volk wer seid Ihr ohne uns/Wir, wir sind das Volk Ihr seid nichts ohne uns.«
»Wir sind das Volk« heißt der Song, den Kai Niemann 2009 aufnahm, und er beginnt mit dem einschlägigen Sprechchören. Niemann kommt 1978 in Sangerhausen im Landkreis Mansfeld-Südharz zur Welt, also in Sachsen-Anhalt.
2001 landet er mit der Single »Im Osten« auf Platz 4 der deutschen Charts und sorgt, so Wikipedia, »für Diskussionen über ostdeutsche Identitäten und das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen«.
Gut sechs Jahre nach seinem Erscheinen wird Kai Niemanns »Wir sind das Volk« zur Hymne von Pegida und der NPD. In einem Interview mit der Taz versteht der sachsen-anhaltinische Barde die Welt nicht mehr: Er sieht sich doch als »eher linksgerichtet«. Das ist ein bisschen so als hätte er ein Spirituosengeschäft und würde sich wundern, dass auch harte Alkoholiker seinen Schnaps kaufen. »Der Erfolg des Songs beruht auf seiner Anschlussfähigkeit an Haltungen und Stimmungen wie in den fünfziger Jahren der BRD. Zu denken wäre an den Zorn des kleinen Mannes, den Heinz Rühmann so gern spielte.« Das schrieb Kristof Schreuf am 17. März in dieser Zeitung, allerdings nicht über Kai Niemanns »Wir sind das Volk«, sondern über »Wir sind Wir« von Paul van Dyk & Peter Heppner. Auch van Dyk beklagt Beifall von der falschen Seite. Sein Lied läuft bei AfD-Kundgebungen. Dabei ist der Berliner Musiker »Sozialdemokrat von ganzem Herzen«. Und staunt, dass sein völkisches Liedgut auch bei denen ankommt, die Flüchtlingsheime belagern. Ob Freddy Quinn, Kai Niemann oder Paul van Dyk: Wenn Deutsche »Wir« rufen, ist Vorsicht geboten, und wenn sie »Wir sind das Volk« rufen, dann schwingt immer mit: Und ihr nicht.