Global Cities als postnationale Räume

Letzte Hoffnung: Stadt

Was die Global Cities dem neuen Nationalismus, dem religiösen Fundamentalismus und dem Rassismus entgegensetzen können.
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Irgendwie hatten wir mal gedacht, die Welt würde sich notwendigerweise immer mehr angleichen, und zwar im Guten. Wir glaubten, die Menschen würden immer gebildeter und damit aufgeklärter und damit fortschrittlicher und emanzipierter. Am Ende würde sich zwangsläufig die Vernunft durchsetzen. Dass es vernünftiger ist, wenn zum Beispiel alle dieselbe Sprache sprechen und sich miteinander unterhalten können, dachten wir, liege auf der Hand. Dass sich kulturelle Identitäten auflösen würden im Sinne emanzipierter Individuen, schien logisch zu sein. Dass es wissenschaftliche Kriterien dafür gibt, was eine gesunde oder sinnvolle Ernährung und medizinische Versorgung ist, und dass nicht ein Gott, sondern die Evolution uns Menschen hervorgebracht hat – all dies müsse letztlich jedem einleuchten. Und wenn wir nicht an die Bildung oder die Vernunft und Einsicht der Menschen glaubten, dann an den historischen Materialismus, nach dem die Produktionsweise die gesellschaftliche Entwicklung bestimme: dass es vielleicht unsozialer, unsolidarischer werden könnte, aber doch niemals aus Sicht des Kapitals unvernünftiger, ineffektiver. Rationalisierung der Arbeitswelt, das müsse doch irgendwie mit rationalem Denken zusammenhängen. Und wenn nicht der Kapitalismus, dann würden es die kommunistischen, anarchistischen Bewegungen sein, die mit ihrer internationalistischen, universellen Weltsicht das Denken in Kategorien von Nation und Volk und Ethnie brechen.
Wir haben uns geirrt. Esoterik und Religionen erleben ein Comeback. Ansichten von gestern werden wieder hochgehalten: Rassismus, Homophobie, Keuschheit, Abtreibungsverbot, heile Familienwelt. In Apotheken werden obskure Zaubermittelchen aus Zucker angeboten, bar jeder medizinischen Evidenz. Die irrsten Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urständ. Satt Emanzipation Identifikation, statt Internationalismus die Rückkehr des Nationalismus, statt offener Grenzen Abschottung und Stacheldraht, statt Ernährungskompetenz inhumane Ideologie, statt Universalismus Kulturrelativismus.
Man kann und muss diese reaktionäre Entwicklung wohl als praktisch gewordene Globalisierungskritik verstehen, als Reaktion auf die Globalisierung. Oder besser: Als Reaktion auf die Angst vor der Globalisierung. Die Angst davor, identitätslos und von der Rolle des emanzipierten Weltbürgers komplett überfordert zu werden. Doch dieses durchaus gängige fatalistische Resümee hat einen Haken: In den Großstädten dieser Welt scheint alles ganz anders zu sein, nämlich sich ähnlich. Die Shoppingmalls und U-Bahnen in Seoul und Dubai – sie unterscheiden sich kaum. Ob Starbucks in Tokio, New York, Sydney, Paris oder Bangkok – alles dasselbe. Die Preise fürs Wohnen und für Lebensmittel sind in London und Hongkong durchaus vergleichbar. In Singapur, Abu Dhabi und Shanghai wird Englisch gesprochen. Die Global Cities sind zuweilen arm an Kultur, aber in dem, was sie an Kultur bieten, scheinen sie Inseln eines kosmopolitischen, universellen Geistes zu sein inmitten einer Wüste des Tribalismus.
Und die Städte wachsen. Immer mehr Menschen ziehen in Großstädte. Besteht also Grund zur Hoffnung? Urbanisierung als Lichtblick? In 30 Jahren werden drei von vier Menschen auf der Erde in Städten leben. Nicht nur Arme, die sich einen Arbeitsplatz erhoffen, zieht es dorthin, auch die Mittelschicht, die Wert auf eine gute Infrastruktur und kulturelle Angebote wie Kino, Theater, Museen, Universitäten legt. In China, wo die Megastädte wie Pilze aus dem Boden schießen, lebt bereits jetzt mehr als die Hälfte der Einwohner des riesigen Landes in Städten. In Indien werden es 2030 vermutlich 40 Prozent der Bevölkerung sein. Dann wird es dort 68 Städte mit mehr als einer Million, 13 mit mehr als vier Millionen und sechs Städte mit über zehn Millionen Einwohnern geben. Mumbai wird im Jahr 2030 vermutlich 30 Millionen Einwohner zählen. Experten schätzen, dass sich weltweit die Zahl der Megastädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern in den nächsten zehn bis 20 Jahren verdoppeln wird.
Und alle diese Städte werden ökonomisch gewichtiger und politisch mächtiger sein als eine Vielzahl kleiner Staaten. Die US-amerikanische Stadtsoziologin Saskia Sassen hat diese Entwicklung bereits in den neunziger Jahren beschrieben: Die Global Cities beziehen sich stärker aufeinander als auf ihre jeweilige Peripherie, von der sie sich zunehmend entkoppeln. Deshalb ist der Begriff »Metropole« für diese Weltstädte ungenau. Eine Metropole bildet qua Definition das Zentrum ihres Umlandes, den Mittelpunkt einer Region. Stattdessen entsteht nun ein Netzwerk verschiedener Weltstädte, welche insgesamt stadtplanerisch, kulturell und sozial eine ähnliche Entwicklung nehmen. Diese Städte lösen sich – wie die Wirtschaft – immer mehr vom Nationalstaat ab und bilden postnationale Räume. So wie sich schon länger die Fußgängerzonen deutscher Kleinstädte oft zum Verwechseln ähneln, gleichen sich nun die Geschäftsviertel, Ausgehviertel und Wohngebiete – die der Reichen wie die der Armen – von Großstädten rund um den Globus.
Die Soziologin Saskia Sassen hat das Phänomen der Global City als direkte Folge der Globalisierung analysiert: Bestimmte Großstädte wurden zu Zentren der Finanzmärkte, zu Zentralen der transnationalen Konzerne, von denen aus die überall in der Welt verteilte Produktion und Dienstleistung gesteuert wird. Die Konzerne begannen, Mitarbeiter, meist auf begrenzte Zeit, in die verschiedenen Filialen zu entsenden. Diese sogenannten expatriates (»Expats«) bilden zunehmend ein eigenes soziales und kulturelles Milieu in den Städten. Viele von ihnen haben ein hohes Einkommen und einen entsprechend hohen Lebensstandard. Zugleich bildet sich in diesen Städten ein immer größeres Dienstleistungssegment. Hausmädchen, Reinigungskräfte, auch Bauarbeiter und viele andere weniger qualifizierte und schlecht entlohnte Arbeitnehmer werden für die Errichtung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur gebraucht. Armutsflüchtlinge mit schlechter sozialer Perspektive aus dem Umland oder aus anderen Ländern komplettieren das Bild. Es bildet sich also nicht nur ein Milieu der Businessleute, sondern auch ein Alternativmilieu, eine oft ebenfalls migrantische Unterschicht mit wiederum eigenen kulturellen Besonderheiten.
Zugleich sind immer mehr Menschen in der Lage, zu reisen und Großstädte zu besuchen, dort zu studieren oder auch nur ein Wochenende feiern zu gehen. Auch sie tragen ihre Kultur rund um die Welt. Global Cities sind zudem wichtige Verkehrsknotenpunkte geworden, vor allem für den Flugverkehr, was dazu führt, dass sich der Tourismus noch mehr auf diese Städte konzentriert und sie zumindest den Ausgangspunkt fast jeder Fernreise darstellen. Wer nach Thailand reist, landet in Bangkok, und wer schon einmal dort ist, will sich diese Weltstadt auch anschauen.
Ob diese Angleichung, diese Gesichtslosigkeit der Weltstädte nun Fluch oder Segen ist, darüber lässt sich streiten. Dass dabei Vielfalt verloren geht, ist klar. Der niederländische Architekt Rem Koolhaas betonte 2011 im Spiegel jedoch die Vorteile: »Die traditionelle Stadt ist sehr von Regeln und Verhaltenscodes besetzt. Die Stadt ohne Eigenschaften aber ist frei von eingefahrenen Mustern und Erwartungen. Es sind Städte, die keine Forderungen stellen und dadurch Freiheit schaffen. Eine Stadt wie Dubai hat über 80 Prozent Einwanderer, Amsterdam 40 Prozent: Ich glaube, für diese Bevölkerungsgruppen ist es einfacher, durch Dubai, Singapur oder die Hafen-City (in Hamburg, Anm. d. Red.) zu laufen als durch schöne mittelalterliche Stadtkerne. (…) In einem Zeitalter der massenhaften Immigration muss es vielleicht auch zu einer massenhaften Ähnlichkeit der Städte kommen. Diese Städte funktionieren wie Flughäfen: Die immer gleichen Geschäfte sind an den immer gleichen Stellen. Alles ist über die Funktion definiert, nichts über die Geschichte. Das kann auch befreiend sein.«
In den Weltstädten leben Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen und mit verschiedenster Religionszugehörigkeit zusammen – und im Großen und Ganzen verläuft dies vergleichsweise konfliktfrei. Das liegt auch daran, dass sich die Städte und ihre Bürger immer mehr in Abgrenzung zur Nation definieren. Daniel A. Bell, Coautor des Buches »The Spirit of Cities: Why the Identity of a City Matters in a Global Age«, stellte fest, dass die Beziehungen der Menschen zu ihrer Stadt, gerade der Lokalpatriotismus, der oft als »Liebe« und mit Herz-Symbol geäußert werde (»I love New York« beispielsweise), nicht nur etwas grundsätzlich anderes als Nationalismus sei, sondern ihm sogar entgegenwirke. »Ein Teil dieses urbanen Stolzes – den man als ›civicism‹ bezeichnen kann – kommt daher, dass New York sich vom Rest des Landes unterscheidet. New Yorker sagen oft, dass sie sich eher ihrer Stadt zugehörig fühlen als ihrer Nation.« In der positiven Bezugnahme auf die Stadt und der Abgrenzung zum Rest des Landes komme, sagt Bell, gerade die Distanz zur Nation und zu extremem Nationalismus zum Ausdruck. Angst vor dem Lokalpatriotismus brauche man dabei nicht zu haben: »Städte werden, anders als Staaten, keinen Krieg gegeneinander führen.«
Städte waren schon immer Ziel der Migration, Weltstädte und Global Cities erst recht. Dort beobachten wir Dinge, die woanders für unmöglich gehalten werden. New York etwa, der »Big Apple«, ist eine Stadt aus lauter Parallelgesellschaften. Was in Chinatown passiert, bleibt in Chinatown. Little Italy, Little Odessa, das indische Little Guyana, jüdische und schwarze Viertel bestehen nebeneinander, man spricht seine eigene Sprache, hat seine eigenen Regeln. Alles das, wovor hierzulande bezüglich Parallelgesellschaften immer gewarnt wird, ist dort Wirklichkeit – und siehe da: es funktioniert. Die Addition der Kulturen ist hier kein Multikulti, sondern ergibt eine Metakultur, eine amerikanische oder eben die New Yorks.
Auch anderes gemeinhin für undenkbar Erklärtes ist in Global Cities Realität. In Dubai etwa sind rund 85 Prozent der Einwohner Expats. Die Einheimischen bilden eine verschwindend kleine Minderheit. Wer als Expat in den Vereinigten Arabischen Emiraten weilt, wird außer bei seinen Behördengängen Einheimische kaum zu Gesicht bekommen. Man kann in Dubai oder Abu Dhabi leben, ohne in einer arabischen Gesellschaft zu leben. Die Einheimischen fühlen sich dabei aber nicht, oder kaum, an den Rand gedrängt, keine »Patriotischen Araber gegen die Hindustanisierung des Morgenlandes« melden sich zu Wort. Im Gegenteil, man lässt die Ausländer gerne für sich arbeiten und lebt weitgehend abgeschottet in seiner eigenen Welt.
Singapur wird praktisch unpolitisch regiert, die totalitäre Staatspartei verwaltet den kleinen Stadtstaat wie ein Unternehmen, die Bürger sind Mitarbeiter dieser Firma, Bürgerrechte werden kaum geboten – aber auch kaum beansprucht, solange das Unternehmen schwarze Zahlen schreibt. Englisch ist Amtssprache, das Gesundheitssystem auf höchstem Niveau, die Steuern sind niedrig, die Bürgersteige blitzblank. Kriminalität gibt es kaum. Dafür aber: totale Überwachung, Auspeitschungen, Todesstrafe – das jedoch so gut wie ohne religiösen oder ideologischen Überbau. Und Singapur ist erfolgreich: Selbst die armen und ärmsten Arbeitsmigranten verdienen deutlich mehr und leben, bis hin zum sklavenartig arbeitenden Dienstmädchen sind, meist unter deutlich besseren Bedingungen als in ihren Herkunftsländern in Bangladesh, Myanmar oder den Philippinen.
Mit Demokratie hat das alles freilich nichts zu tun, Weder in Dubai noch in Singapur. Die Gesellschaft dieser Städte basiert auf eiserner Repression, Zensur, politischer Diktatur und gnadenloser Ausbeutung. Sie können daher selbstverständlich nicht als Ideal herangezogen werden, sie taugen nicht als Hoffnung für eine emanzipiert-globalisierte Welt. In gewisser Weise sind kosmopolitische Schmelztiegel wie die Global Cities mit globalen Konzernen wie Google, Apple und Facebook vergleichbar. Sie bestimmen, weitgehend ideologiefrei, die Realität sehr vieler Menschen, und das in vielerlei Hinsicht zum Guten, sie entziehen sich aber vollständig der demokratischen Kontrolle. Ihr Erfolg hängt, da er sich rein ökonomisch definiert, durchaus vom Zuspruch der Mehrheit ab: Sie sind so demokratisch wie der Markt. Und genauso tyrannisch.
Natürlich sind die genannten Beispiele nicht übertragbar. New Yorks Parallelgesellschaften, Dubais Migrantenmehrheit, Singapurs Big-Brother-Staat – es gibt jeweils ganz spezielle Faktoren, die erklären, warum das System im konkreten Fall funktioniert. Zwar wird wer sich zum Beispiel als Ausländer für jeweils ein halbes Jahr in diesen Städten aufhält, sehr viele Gemeinsamkeiten feststellen. Gewaltige Unterschiede zwischen Großstädten gibt es dennoch, denn längst nicht alle Megastädte sind auch Global Cities. In den riesigen Häuserlandschaften, die etwa gerade in China entstehen, geht es alles andere als kosmopolitisch zu. Viele dieser Großstädte werden in Entwicklungs- und Schwellenländern gebaut, die bereits mit mangelhafter Infrastruktur, mit Kriminalität, Slum-Bildung und Gewalt zu kämpfen haben. Der Generalsekretär des UN-Wohn- und Siedlungsprogramms, Joan Clos, warnt: »Wir müssen den Druck der Urbanisierung kontrollieren.« Die Urbanisierung schreite in hohem Tempo voran und das »in vielen Ländern in Form von Slums«.
Vielen solcher Megastädte droht zudem eine ökologische Katastrophe. Allerdings ist auch das nicht überall so. Da viele Städte völlig neu errichtet werden, entstehen sie natürlich auch zu besseren, ökologischeren Bedingungen als Städte vor 100 oder 200 Jahren. Das Abwassersystem und der öffentliche Nahverkehr funktionieren, die Häuser sind energiesparender gebaut. Und in vielen großen Städten findet die Natur durchaus ihren Platz. In Singapur mit seiner üppigen Tropenvegetation, seinen herrlichen Parks und begrünten Häusern sowieso. Aber auch in Berlin leben rund 20 000 bis 30 000 Tierarten. Zum Vergleich: Im Nationalpark Bayerischer Wald sind es weniger als 11 000.
So vergleichbar die Entwicklung in vielen Weltstädten ist, so groß sind die Unterschiede. Aus beiden Gründen ist es wichtig, ihre Entwicklung genau zu beobachten. In den Städten wird sich entscheiden, ob es eine Zukunft für das Projekt der Emanzipation des Menschen gibt.