»Da wehte ein anderer Wind«

Der Bau der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) im oberpfälzischen Wackersdorf war ein atompolitisches Großprojekt der achtziger Jahre. Von Beginn an war der Widerstand gegen das Vorhaben groß. Vor 30 Jahren, am 18. und 19. Mai 1986, kam es an der Baustelle der WAA zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Atomkraftgegnern. Der Amberger Sozialarbeiter Lutz R. Lang hat diese sogenannte Pfingstschlacht von Wackersdorf miterlebt und mit der Jungle World darüber gesprochen.

Wie haben Sie die Tage rund um den 18. Mai 1986 in Wackersdorf erlebt?
An die Pfingstschlacht, wie sie später hieß, kann ich mich noch gut erinnern. Zunächst war an dem Tag nur wenig Polizei zu sehen. Irgendwann ging es zur Sache. Wegen der wenigen Beamten, die im Einsatz waren, warf die Polizei von Hubschraubern aus Tränengasgranaten in die Menge. Das Szenario habe ich noch vor Augen. Es gab sehr, sehr viele Verletzte.
Waren Sie allein oder in einer Gruppe unterwegs?
Wir sind meistens allein zur Baustelle und haben uns dort getroffen. Wir hatten billige, kleine Plastikradios, mit denen man die bayerischen Sender empfangen konnte. Aber nicht nur die, sondern auch den Polizeifunk. So wussten wir immer, wo sich die Freunde in Uniform aufhielten.
Die Medien nahmen eine Unterscheidung vor: randalierende Autonome hier, friedliche Demonstranten da. Zerfielen die Atomgegner tatsächlich in diese beiden Gruppen?
Die Autonomen kamen aus Frankfurt, Westberlin und anderen Städten. Viele von ihnen waren an Pfingsten 1986 relativ schnell wieder weg. Die bürgerlichen Demonstranten radikalisierten sich aber. Es gab ältere Herrschaften in typisch oberpfälzischer Tracht, die Polizisten beschimpften: »Schämt ihr euch nicht? Ihr verratet uns!« Da wehte ein anderer Wind aus der bürgerlichen Ecke. Als die Polizei während der Pfingstschlacht mit Wasserwerfern aus dem Inneren der Baustelle kam – in Wackersdorf ereignete sich der größte Einsatz von Wasserwerfern in der Geschichte der Bundesrepublik –, stellten sich bürgerliche Demonstranten in den Weg, damit die Autonomen flüchten konnten. Solche Szenen konnte man beobachten.
Eine Frau starb im März 1986 während der Proteste gegen die WAA an einem Herzinfarkt, ein Mann nach dem Einsatz von CS-Gas. Wie wurden diese Todesfälle diskutiert?
Der Einsatz von CS-Gas hat die Gemüter erhitzt und viele Demonstranten haben die erstickungsähnlichen Anfälle, die das Gas verursacht, am eigenen Leib erfahren. Auch deshalb haben sich bürgerliche Demonstranten, sogar ältere, auf Polizisten gestürzt. Die Polizei hat auch solche bürgerlichen Leute während der Pfingstschlacht festgenommen. Diese mussten sich öffentlich bis auf die Unterhose ausziehen. Das war reine Schikane.
Drei Wochen vor der Pfingstschlacht war der Reaktor in Tschernobyl explodiert. Wie hat sich das Ereignis auf die Stimmung in Wackersdorf ausgewirkt?
Es kamen mehr Leute als zuvor. Meine Verwandten haben bei mir angerufen: Auf nach Wackersdorf, wichtig! Es ging nicht mehr nur um abgebrannte Brennstäbe, sondern um die Atomenergie als solche. So kamen immer mehr Leute nach Wackersdorf. Zugleich gab es immer mehr Schikanen seitens der Behörden.
Wie sahen die aus?
Die Bevölkerung wurde pauschal kriminalisiert. Es gab nächtliche Razzien. Die Leute wurden fotografiert wie Kriminelle. Ich nehme auch an, dass Telefone abgehört wurden. Es gab Repressalien auf der Arbeit. Ich war damals im öffentlichen Dienst. Mir wurde gesagt: »Dich sollte man hinter einem Zaun einsperren, ohne Strom. Wenn du nach einem Jahr immer noch keinen Atomstrom willst, dann sollte man dich vergasen.«
1989 wurde der Bau der WAA eingestellt. Haben die Atomkraftgegner das als ihren Sieg gesehen?
Das haben sie. Es war aber nicht richtig. Der Bau wurde aufgegeben, weil die Wiederaufbereitung kostengünstiger im französischen La Hague abgewickelt werden sollte.
Was befindet sich heutzutage am Ort der Baustelle?
Ein Industriegebiet. Unter anderem hat sich BMW angesiedelt, die nötigen Zuliefererbetriebe sind auch da. In Wackersdorf hat sich einer der größten Industrieparks der Region entwickelt.