Kritik an erniedrigenden Erziehungspraktiken in schleswig-holsteinischen Kinderheimen

Kalter Kaffee im Kinderheim

Während der parlamentarische Untersuchungsausschuss zur Friesenhof GmbH in Kiel noch tagt, werden auch anderen Kinderheimen in Schleswig-Holstein erniedrigende Erziehungspraktiken vorgeworfen.

In der Nacht »wurden alle Jungen aus den Betten gescheucht, mussten in Unterhose oder Schlafanzug auf dem Hof im Kreis laufen und dann auf dem Boden über Tannenzapfen robben, bis die Delinquenten irgendwann ihre Missetat gestanden«. So gaben die Kieler Nachrichten am 10. Mai die Schilderungen von Marco wieder, der bis März 2014 zwei Jahre lang auf dem »Hof Seeland« des Kinder- und Jugendheims »Therapiezentrum Rimmelsberg« in der Nähe von Flensburg leben musste. Anlass für die Strafaktion war, dass einige der Jungen nachts zwei Salamipackungen aus dem Kühlschrank entnommen hatten. Die Packungen waren aber abgezählt und das Personal hatte einen Anlass für die Kollektivbestrafung.
Marco, mittlerweile 18 Jahre alt und Auszubildender, schilderte der Zeitung detailliert seine Erinnerungen an die Jahre im »Therapiezentrum Rimmelsberg«. Vieles an dem Umgang mit den Kindern und Jugendlichen erinnert an Schikanen während der Grundausbildung bei der Bundeswehr. Sei etwa der Kleiderschrank nicht korrekt aufgeräumt gewesen, wurden alle Kleidungsstücke herausgezogen. »Im Herbst, es hatte gerade geregnet und die Betreuer – immer Männer und immer zu dritt – trugen bereits warme Jacken, mussten die Jungen nach Marcos Erinnerung mittags nur in Unterhose bekleidet durch den Schlamm robben. Da sie schmutzig nicht ins Haus zurück durften, griffen die Betreuer einen Gartenschlauch und spritzten die Jungen mit kaltem Wasser ab.« Einmal habe ein Betreuer einen Putzeimer mit Schmutzwasser über Marco und andere Jungs ausgekippt, weil sie das Wasser nicht ausreichend gewechselt hatten.
Das »Therapiezentrum Rimmelsberg« und die Einrichtungen des Trägers »Heilpädagogische Kinder- und Jugendhilfe Dithmarschen« in Dörpling sind mit Vorwürfen konfrontiert, seit am 3. Mai Sabine Boeddinghaus, Co-Vorsitzende der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, und Wolfgang Dudda, sozialpolitischer Sprecher der Piratenpartei im schleswig-holsteinischen Landtag, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz über Beschwerden ehemaliger Heimkinder und deren Familienangehöriger berichteten. »In erster Linie stehen Rimmelsberg und Dörpling im Zentrum der Beschwerden, die uns erreichen«, sagte Sabine Boeddinghaus der Jungle World, »wir haben aber auch Hinweise auf weitere Einrichtungen«. Boeddinghaus machte im Mai 2015 die Zustände in den Heimen der Friesenhof GmbH im Landkreis Dithmarschen öffentlich, die dann im Juni durch die Heimaufsicht geschlossen wurden. Dudda setzte sich im parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Schleswig-Holstein für die Aufklärung der Zustände in den Friesenhofheimen und für eine verschärfte Kontrolle aller Heime ein.
Die Heimaufsicht führte zu wenige unangemeldete Besuche in Heimen durch, kritisieren die beiden Oppositionspolitiker. Die Heimaufsicht in Schleswig-Holstein wurde auf Betreiben von Staatssekretärin Anette Langner (SPD) und Sozialministerin Kristin Alheit (SPD) von vier auf zwölf Personen aufgestockt – allerdings erst, nachdem es im Juni 2015 massive Kritik an der mangelnden Kontrolle der Heime aufgrund der seinerzeit bekanntgewordenen Zustände in den Heimen der Friesenhof GmbH gegeben hatte. Zuvor waren angekündigte Besuche die Regel. So konnten Fenstergriffe wieder angebracht, Türen aufgeschlossen, schwarze Pädagogik geleugnet werden. Für die Kinder und Jugendlichen wirken diese Besuche wie »Treffen unter Freunden«, sagte Dudda der Jungle World: »Man kennt sich jahrelang und spricht und telefoniert häufig miteinander. Das erzeugt automatisch den Eindruck von Vertrautheit. Vor diesem Hintergrund misstrauen die Kinder und Jugendlichen den Leuten der Heimaufsicht.« Bei solchen Besuchen sei es für die Heimbewohner unmöglich, unbemerkt ein längeres vertrauliches Gespräch mit den Leuten der Heimaufsicht zu führen, »ohne hinterher sanktioniert zu werden von der Einrichtung«, so Dudda. Unangemeldete Kontrollen seien unerlässlich. Zumal, wenn die Herkunftsfamilien 150 Kilometer oder noch weiter entfernt wohnen, können sie sich Besuche in den Heimen kaum leisten – wenn sie überhaupt hineingelassen werden.
Die »milieuferne« Heimunterbringung auf dem Land fernab der Großstadt wird von den Jugendämtern Hamburgs und anderer Großstädte gerne angeordnet – allein in Schleswig-Holstein sind derzeit 840 Heranwachsende bis 18 Jahren aus Hamburg auf viele der insgesamt 1 200 »Jugendhilfeeinrichtungen« verteilt, weitere 460 Heranwachsende sind es in Niedersachsen. »Wieder zeigt sich, dass die Hamburger Jugendämter junge Menschen außerhalb der eigenen Landesgrenze unterbringen, ohne genau wissen zu wollen, wie die jeweiligen Einrichtungen arbeiten und wie es den jungen Menschen dort geht«, moniert Boeddinghaus. Mit der Schwarzen Pädagogik in vermeintlich offenen Einrichtungen müsse endlich Schluss sein. »Erniedrigungen, Isolierungen, Strafsport, Kontaktsperren und erniedrigende Verhaltenszüchtigungen haben keinen Platz in der Kinder- und Jugendarbeit.«
Kontaktsperren und Abschottung nach außen etwa durch interne Beschulung und Ausgehverbote sind eine häufige Praxis in Kinder- und Jugendheimen und begünstigen Erniedrigungen und Bestrafungen, weil es nahezu keine Kontrolle und praktisch keine Beschwerdemöglichkeiten für die Heranwachsenden gibt. Am 20. November legte der rot-grüne Senat Hamburgs in der Antwort auf eine große Anfrage der Fraktion »Die Linke« dar, wie verbreitet Kontaktsperren bei den von Hamburger Jugendämtern belegten etwa 500 Heimen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen sind: Allein 78 Einrichtungen erlauben in den ersten zwei bis acht Wochen keine Besuche bei der »Herkunftsfamilie«, 61 dieser Heime schränken auch darüber hinaus den Kontakt ein. Es könnten auch schon mal »Wochenendbeurlaubungen als Konsequenz für unerlaubtes Verhalten gestrichen« werden. Auch die interne Beschulung in den Heimen ist weit verbreitet: 181 Einrichtungen, verwehrten den Heranwachsenden den Besuch einer öffentlichen Schule. So entfällt die einzige Möglichkeit, zu einer vom Heim unabhängigen Institution Kontakt aufzunehmen und Hilfe oder Beratung zu suchen.
Ein früher bei der Friesenhof GmbH und seit 2014 in Dörpling angestellter Erzieher vertraute sich Dudda an, will aber anonym bleiben, um weiter als Erzieher arbeiten zu können. In einer eidesstattlichen Erklärung veröffentlichte Dudda Anfang vergangener Woche die schweren Vorwürfe insbesondere gegen den heutigen Geschäftsführer in Dörpling, Frank Hunting: »Bestrafungen für Fehlverhalten jedoch wurden wie im Friesenhof vor allen Kindern vorgenommen. Als Beispiel führte die Auskunftsperson an, dass ein 17jähriger Junge auf einem Stuhl Platz nehmen musste, der zuvor auf einen Tisch gestellt worden war. Die anderen Kinder mussten sich um den Tisch herum aufstellen.« Der Junge sei dann von Hunting »zusammengeschissen« worden, so Dudda: »Andere Formen der Bestrafung waren Stubenarrest, Ausgeh- und Fernsehverbote, aber auch das Herunterdrücken auf den Boden, so wie es die Auskunftsperson bereits aus dem Friesenhof kannte. Dabei wurde exakt die gleiche Technik angewendet wie im Friesenhof. Das Ziel dieser Maßnahme war es, so wie es Hunting der Auskunftsperson erklärte, das jeweils betroffene Kind vor den anderen Kindern zu erniedrigen.« Dudda gibt die Aussage der Auskunftsperson wieder: »So ein Herunterdrücken zu Boden dauerte regelmäßig mindestens 15 Minuten an.« So etwas sei durchschnittlich fünf bis sieben Mal pro Woche vorgekommen.
Hunting bestritt alle Vorwürfe und sagte: »Wir arbeiten eng mit der Heimaufsicht zusammen.« Der Geschäftsführer des »Therapiezentrums Rimmelsberg«, Manuel Feldhues, lädt für diesen Donnerstag gar in die Einrichtung ein – dort sei alles transparent. Besonders verunsichert von den Vorwürfen wirken beide Träger nicht. Sie gehen wohl davon aus, dass die Schließung der Friesenhof-Heime im Juni 2015 eine Ausnahme war. Eine nicht ganz unbegründete Vermutung, räumte doch im April der Hamburger Senat in der Antwort auf die Frage von Boeddinghaus nach dem Einsatz von Strafsport ein: »Nach Informationen des Bezirksamtes Eimsbüttel soll unfreiwilliges Joggen im Therapiezentrum Rimmelsberg bis Ende 2015 der Fall gewesen sein«, um anschließend mitzuteilen, dass es keinen Anlass gebe, Hamburger Kinder nicht mehr in diese Einrichtung zu einzuweisen.
Die für die Heimaufsicht zuständige schleswig-holsteinische Sozialministerin Kristin Alheit bekommt uneingeschränkt Unterstützung aus der Koalition von SPD, Grünen und SSW: Die sozialpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, Marret Bohn, erklärte: »Die Kritik der Opposition bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.« Der sozialpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Wolfgang Baasch, hielt der Opposition vor, einen Popanz aufgebaut zu haben: Die Fraktion der Piratenpartei serviere »kalten Kaffee«.