Jon Savage im Interview über 40 Jahre Punk

»Punk war immer kommerziell«

Mit der Großveranstaltung »Punk London« feiert Großbritannien das Erscheinen der Sex-Pistols-Single »Anarchy in the U.K.« vor 40 Jahren. Aus Protest gegen das von der Queen und dem ehemaligen Londoner Bürger­meister Boris Johnson unterstützte Event will Joe Corré, der Sohn von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren, seine Punk-Memorabilien im Wert von fünf Millionen Pfund verbrennen. Der britische Musikjournalist und Autor der Punk-Chronik »England’s Dreaming«, Jon Savage, ist am Programm des Festivals beteiligt. Den Vorwurf der Kommerzialisierung hält er für absurd. Für die von Corré angekündigte Aktion hegt er trotzdem Sympathie.

Vor 25 Jahren ist Ihr Buch »England’s Dreaming« erschienen. Was hat sich seitdem verändert?
Eine Menge. Seitdem sind so viele Bücher über Punk erschienen. Heute denkt jeder, er kennt die Geschichte. Was daran liegt, dass die Protagonisten ihre Erlebnisse so oft erzählt haben.
Woher rührt die andauernde Faszination für Punk?
Punk war umstritten, kontrovers, kurz: ein radikaler Bruch. Für mich selbst war es eine aufregende Zeit. Für viele Menschen ist es der Zeitpunkt, an dem die Popgeschichte erst richtig begann. Die Bewegung wurde ja quasi für die Medien de­signt. Es sprang also immer eine gute Story heraus. Auch wenn ich viele dieser Geschichten sehr langweilig finde.
Warum?
Punk ist jetzt 40 Jahre alt. Warum zum Teufel sollte man heute noch eine Meinung dazu haben? Eigentlich sollte etwas, das vier Jahrzehnte alt ist, nur noch in akademischen Studien oder ernsthaften Büchern abgehandelt werden. Und noch ein Punkt, der mich stört: Sobald es um Punk geht, reden die Leute unwahrscheinlichen Müll.
Meinen Sie damit John Lydon? Der ehemalige Sänger der Sex Pistols hat Sie in seiner Autobiographie »Anger Is an Energy« heftig attackiert. Er spricht von Menschen, die einen größeren Teil an der Geschichte beanspruchen, als sie tatsächlich hatten, und bezieht das auf Sie. Wie sind Sie mit diesen Vorwürfen umgegangen?
Bisher hat mich nur eine Person darauf angesprochen. Sie sind erst die zweite, die es mir gegenüber erwähnt. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, beschäftigen sich nicht mit solchem Gerede. Ich kann nur sagen, dass ich mir darüber keine Gedanken mache.
Sie haben Lydons Aufstieg und Fall mit den Sex Pistols akribisch beschrieben. Warum ist diese Band so wichtig für die Geburt der Punk-Bewegung?
Die Sex Pistols waren eben eine dieser Bands, die Menschen, die sie live sahen, dazu veranlassten, selbst Bands zu gründen, Fanzines zu schrei­ben oder Kunst zu machen.
Die Antagonisten der Sex Pistols waren The Clash. Wodurch unterschieden sich beide Bands?
Der Nihilismus der Sex Pistols machte es viel schwieriger, sie zu handhaben. Man konnte nicht so einfach sagen: »Ich mag die Sex Pistols«. Es war eher eine Mischung aus Zu- und Abneigung. The Clash waren leichter zugänglich und zu verstehen und hatten am Ende ja das längere Leben.
Sie sagen, dass die Sex Pistols, indem sie »No Future« sangen, gerade das Gegenteil bewirkten, nämlich eine Zukunft schufen. Wie ist das zu verstehen?
»No Future« war im Grunde kein Statement, sondern eine Polemik. Es bedeutete: Es gibt keine Zukunft, außer du kriegst den Arsch hoch und tust etwas dafür.
Wie wichtig war die Rolle von Malcolm McLaren?
Enorm wichtig, weil er wie ein Katalysator wirkte. Er war es, der die Sex Pistols zusammengestellt hat.
Sie schreiben, dass die Sex Pistols der letzte Atemzug einer Jugendkultur waren, die als einzigartige, vereinigende Kraft wirkte. Denken Sie heute immer noch so?
Dem würde ich nicht mehr uneingeschränkt zustimmen. Es gab auch später vergleichbare Jugendkulturen. Denken wir etwa an Grunge mit Nirvana oder Rave. Dennoch war es für Punk wesentlich leichter, eine Wirkung zu entfalten, weil es so wenig gleichzeitig gab. Das fand ja alles ohne Internet und soziale Medien statt. Heute gibt es so viele Informationen, dass es für junge Menschen schwer ist, sich einen Weg da durchzubahnen.
Würden Sie sich wieder eine Jugendbewegung wünschen?
Ich hoffe es zumindest, denn die ­Jugend ist die Zukunft, sie symbolisiert Wandel. Wenn man sich nicht verändert, hat man einen statischen Zustand oder schlimmstenfalls den Tod.
Im »Year Punk Broke«, also 1976, arbeiteten Sie bei der Zeitschrift Sounds. Welche Konzerte sind Ihnen aus der Zeit in Erinnerung geblieben?
Viele der Konzerte in dieser Zeit ­waren außergewöhnlich. Ich habe ein beeindruckendes Konzert der Sex Pistols in der Notre Dame Hall am 15. November 1976 gesehen. Ich habe einen Kampf zwischen Joe Strummer und dem Publikum bei »A Night of Treason« im Royal College of Art am 5. November 1976 erlebt, so etwas hatte ich davor noch nie gesehen. 1977 war ich noch bei zwei weiteren Konzerten von The Clash und den Sex Pistols. Das waren wirklich Ereignisse. Ich war ja sehr gewissenhaft in meinem Job. Manchmal habe ich drei Konzerte an einem Abend besucht.
Was halten Sie von der Aktion von Joe Corré? Der Sohn von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood hat angekündigt, seine Sammlung von Punk-Erinnerungsstücken im Londoner Stadtteil Camden zu verbrennen. Und zwar am 26. November, dem Tag, an dem 1976 die Single »Anarchy in the U.K.« von den Sex Pistols erschien. Die Sammlung soll fünf Millionen Pfund wert sein.
Ein Journalist einer sehr angesehenen Zeitung in Großbritannien hat gesagt, er will die Tatsache, dass der Sohn von Malcolm McLaren seine Punk-Memorabilien verbrennt, nicht kommentieren. Ich dagegen finde, dass es in Ordnung ist, wenn er das machen will. Ich hege Sympathien für Joe. Er hat seine Gründe, warum er das tut. Ohne Zweifel hat das eben mit seiner Beziehung zu seinem Vater zu tun. Prinzipiell finde ich es aber schlecht, kulturelle Artefakte zu verbrennen. Die Nazis haben das getan, derzeit zerstört die Terrormiliz IS Kunstschätze.
Corrés Wut richtet sich ja vor allem gegen das Festival »Punk London«, das mit Events, Konzerten, Filmen, Diskussionen und Ausstellungen das Jubiläum feiert. Ironischerweise mit der Unterstützung von Boris Johnson, dem ehemaligen Bürgermeister von London.
Das Hauptproblem ist tatsächlich, dass diese Reihe direkt mit Johnson assoziiert ist. Johnson ist ein Idiot. Ich kann ihn nicht ertragen. Aber grundsätzlich habe ich kein Problem mit »Punk London«. Ich werde auch im Programm auftauchen.* Es ist idiotisch, darüber zu nörgeln.
Kommerzialisiert ein Festival wie »Punk London« das Phänomen Punk?
Allein diese Frage ist kompletter Unfug. Es ist absurd, sich Gedanken darüber zu machen, ob und wann Punk kommerziell wurde. Punk ist immer kommerziell gewesen. Punk war immer Teil der Musikindustrie. Die Sex Pistols haben bei EMI unterschrieben, The Clash bei CBS. Sie wollten alle Jobs und ein geregeltes Einkommen.
Aber Sie müssen doch zugeben, dass Punk die Musikindustrie zumindest verändert hat, nicht wahr?
Das stimmt, denn es war die Geburtsstunde vieler kleiner Labels und hat mehr oder weniger den modernen Independent-Sektor begründet. Denken Sie an das Label New Hormones, auf dem mit »Spiral Scratch« von den Buzzcocks die erste selbst produzierte Punk-Platte erschien oder die EPs der Desperate Bicycles auf Refill Records. Danach folgte ein ganzes Konglomerat an Independent-Labels wie Rough Trade, Cherry Red und Beggars Banquet. Außerdem kamen viele junge Leute über die Bewegung in Kontakt mit der Musikpresse und gründeten Fanzines wie Sniffin’ Glue. Viele DIY-Ideen, die unglaublich wichtig waren, hatten ihren Ursprung in der Punk-Bewegung. Das Interesse an künstlerischer und kultureller Tätigkeit wuchs. Das ist für mich das wichtigste Vermächtnis von Punk.
Inwiefern begünstigte Punk die Emanzipation von Musikerinnen?
Das war enorm wichtig. Gruppen wie The Slits oder Performerinnen wie Viv Albertine, Siouxsie, Poly Styrene and Pauline Murray machten Musik, wie es Frauen zuvor nie getan hatten. Ein zentrales Merkmal von Punk war ja, dass er sich vom vorherigen »Lad Rock« deutlich abgrenzte, ja, dass fast schon eine männliche Unterwürfigkeit aufkam. Heute ist es etwa normal, dass viele Frauen an prominenten Stellen in den Medien Sexismus thematisieren.
Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle in der Punk-Bewegung?
Ich war ein Beobachter, ein Zeuge und sehr beschäftigt damit, Bands bekannt zu machen und über sie zu schreiben. Ich habe mich immer als Autor gesehen, nie als Musiker. Ich wollte ja nie selbst eine Band gründen.
Wo lebten Sie damals?
Bei meinen Eltern in Kensington in der Nähe von Notting Hill Gate und Portobello Road. Das war manchmal schwierig. Damals war das übrigens eine Middle-Class-Gegend. In gewisser Hinsicht habe ich es damals aber als eine gute Zeit empfunden, denn junge Leute konnten viel billiger in der Nähe des Zentrums von London wohnen und es gab viel mehr Raum als heute. Heute ist es eine sehr reiche Gegend. Diese Entwicklung hat mir missfallen.
Was in London ja durchaus zu Protest führt. Letzten Herbst eskalierten Krawalle im Hipster-Stadtteil Shoreditch. Gruppen wie die anarchistische Class War Party protestierten gegen die Gentrifizierung und attackierten etwa das »Cereal Killer Café« als Symbol für die Vertreibung sozial schwacher Schichten. Was halten Sie von dieser Form des Protests?
Das »Cereal Killer Café« anzugreifen, mag Aufmerksamkeit generieren. Aber verändert es viel? Ich glaube es nicht. Wenn man die wirklich Verantwortlichen attackieren will, muss man weiter oben ansetzen. Die Personen, über die man wirklich sprechen muss, sind die Immobilienspekulanten, die den Kauf von Gebäuden finanzieren. Immerhin betonen die Proteste zumindest einen wichtigen Punkt: London hat seine Seele verloren. Ich bin Londoner, lebe aber nicht mehr dort. Ich bin vor 18 Jahren nach Anglesey in North Wales gezogen und bereue es nicht.
Gibt es derzeit Punkbands, die Sie mögen?
Ich habe kürzlich eine junge walisische Punkband namens Y Fug gesehen. Es gibt immer noch Musiker in diesem Geist, was ich gut finde.
Momentan verkörpert für mich die Fat White Family den Anti-Establishment-Geist von Punk am ehesten, inklusive der schon damals beliebten Nazi-Provokationen. Ihr erstes Album heißt »Champagne Holocaust«, ein Song »Lebensraum«. Live entfalten sie eine ungeheure Intensität. Was halten Sie von ihnen?
Ich muss Sie enttäuschen, aber ich bin wirklich der falsche Ansprechpartner, um das subversive Potential neuer Bands einzuschätzen. Ich sehe es schon lange nicht mehr als meine Aufgabe, auszugehen und neue Gruppen zu entdecken. Die Zeiten sind lange vorbei.

* Seit Mai zeigt die British Library eine Ausstellung, die das sogenannte »England’s Dreaming«-Archiv enthält, das Savage zusammengetragen und vor 15 Jahren der John-Moores-Universität in Liverpool überlassen hat. Es enthält seine Sammlerstücke aus der Punk-Ära.
Jon Savage: England’s Dreaming: Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Tiamat, Berlin 2016, 544 Seiten, 19,80 Euro