Das Verhältnis von Politik und Theater beim Berliner Theatertreffen

Debatten ohne Wahrheit

Beim Berliner Theatertreffen wurde wieder einmal nach dem Verhältnis von Politik und Theater gefragt.

Beim diesjährigen Berliner Theatertreffen kam die Frage auf, wie sich das Theater der Gegenwart eigentlich zu den derzeitigen politischen Gegebenheiten verhalte. Die Situation der Flüchtlinge in Europa war der Anlass. Im vergangenen Jahr hatte Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen« das Theatertreffen fulminant eröffnet, inzwischen wurde das Stück an zahlreichen Bühnen in den Spielplan aufgenommen und der moralische Furor ist ein wenig der Ernüchterung über die Anforderungen zivilgesellschaftlicher Abfederung des Flüchtlingselends gewichen. Als Dilemma des Theaters wurde folgerichtig die Alternative »Kunst oder Sozialarbeit?« benannt, was offensichtlich die Wiederkehr der Frage von Kunst und Engagement unter den jetzigen Bedingungen ist.
Barbara Burckhardt, Jurorin des Theatertreffens, formulierte den Zwiespalt des Theaters wie folgt: »Wie kann man in der saturierten Zone unserer hochsubventionierten Stadttheaterkultur über das Sterben vor den Küsten, die Ankunft der Menschen hier, den Clash der Kulturen, das Gefühl von Überforderung, aber auch den Goodwill der Zivilgesellschaft erzählen, ohne sich paternalistisch zu erheben, in eigenen Befindlichkeiten zu versinken oder die Bühne zum Zoo zu machen?« Angesichts der politischen Umstände müsse man die Auswahlkriterien des Theatertreffens überprüfen und auch das Repräsentationstheater hinterfragen, forderte Burckhardt. Zuletzt wies sie darauf hin, dass sich Theater durchaus als künstlerische und soziale Orte verstehen könnten, ja gerade in der Spannung zwischen beiden Bestimmungen eine Möglichkeit für die Lebendigkeit des Theaters liege.
Burckhardt antwortete damit Peter Laudenbach, ebenfalls Juror des Theatertreffens. Er skizzierte einen Gegensatz zwischen der Kunst als geschlossenem Raum und einer Kunst, die sich in soziale Praxis auflöst. Auf der einen Seite stehe der scheidende Intendant der Volksbühne, Frank Castorf, der auf die Frage, warum die Theater plötzlich alle Flüchtlingscafés betreiben, geantwortet haben soll: Weil sie keine Kunst mehr machen wollen. Auf der anderen Seite Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele und ehemaliger Leiter des HAU in Berlin, dem gute Sozialarbeit lieber sei als schlechtes Theater. Laudenbach kommt zu dem Schluss, dass das gegenwärtige Theater von der Frage zerrissen sei, ob es ein Reflexions- oder ein Interventionsmedium sein möchte.
Die Diskussion ist nicht neu, sie bestimmt die Geschichte der modernen Kunst von der Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit Henrik Ibsen über die Diskussion um Formalismus, Expressionismus und Volkskunst in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bis zur Konzeption eines epischen und schließlich dialektischen Theaters bei Bertolt Brecht; ja auch die Postdramatik beansprucht, in der Tradition dieser Auseinandersetzungen über Theater und Politik zu stehen.
Nun ist es mit der Kunst tatsächlich eine schwierige Sache, denn sie steht eben in ihrer Form auch für die Utopie einer Welt ohne Herrschaft ein. Diese Wirkung kann sie allerdings nur künstlerisch entwickeln. Der utopische Gehalt der Kunst ist wiederum an ihre Autonomie geknüpft, was Selbstgesetzgebung bedeutet – und nicht Verantwortungslosigkeit. Die Utopie der Kunst hängt also an ihren Gesetzen, wenn man sich, sei’s auch in gutgemeinter Absicht, der Letzteren entledigt, setzt man auch Erstere aufs Spiel. Dass die Gesellschaft widervernünftig eingerichtet ist, ist zweifelsohne ein Skandal – allerdings kein künstlerischer. Es wird also auch nicht die Kunst sein, die ihn beseitigt, allenfalls kann sie ein Bild davon geben, dass es möglich ist und dass es sich lohnen könnte.
In der Auswahl der Stücke zum diesjährigen Theatertreffen zeigte sich dann folgendes Bild: Karin Beiers Inszenierung »Schiff der Träume« des Schauspielhauses Hamburg eröffnete das Festival. Federico Fellinis filmische Parabel auf den Untergang der bürgerlichen Kultur und den Ersten Weltkrieg von 1983 (mit dem weitaus treffenderen italienischen Titel »E la nave va«, was so viel meint wie: Und das Schiff fährt weiter) wird zum Vehikel einer losen Handlung über das Aufeinandertreffen von mitteleuropäischen Künstlern mit afrikanischen Flüchtlingen. Mit Vorurteilen wird gespielt, Erwartungen werden bedient und gebrochen, immer wieder wird Identifikation provoziert und anschließend zurückgenommen, jede Ebene des Spiels wird durch eine weitere unterlaufen und am Ende ist Ratlosigkeit das bestimmende Gefühl im Publikum. Deutlich wird, dass das Einfühlungstheater ironisch zu brechen nicht bedeutet, es ästhetisch überwunden zu haben.
Mehr um analytische Stringenz bemüht ist Dietmar Daths Bearbeitung von Henrik Ibsens »Ein Volksfeind« des Schauspielhaus Zürich in der Regie von Stefan Pucher. Dath hat unter Beibehaltung der dramatischen Grundkonstellation das Geschehen des Ibsen-Textes von 1882 übertragen auf eine Vorzeigekommune mit E-Governance, Cross Border Leasing und Energy Deal der Gegenwart. Der Arzt der Gemeinde erkennt jedoch, dass die vermeintliche Idylle auf der Vergiftung der Lebensgrundlagen basiert, in diesem Falle durch Fracking. Dieser Umstand jedoch darf, weil er der ökonomischen Interessenlage – also der Abhängigkeit von Investitionen – des kleinen Städtchens widerspricht, nicht öffentlich werden. Stockmann wird als Überbringer schlechter Nachrichten zum Volksfeind.
Dath hat Ibsen treffend aktualisiert. Transparente Diskurse, Bürgerbeteiligung und Meinungen über Meinungen verhindern eine auf Wahrheit gerichtete Öffentlichkeit. Es ist eine Debatte ohne Wahrheit, eine Demokratie ohne Verantwortung.
Ibsens Drama und Daths Bearbeitung haben auf die Erkenntnis gebaut, dass das Gesetz der Kapitalakkumulation, mit dessen Hilfe das Bürgertum den Adel besiegen konnte und sich zur herrschenden Klasse aufschwang, im Laufe der Geschichte auch das Bürgertum zerstören würde – Ibsen formuliert das für die ausgehende liberale Epoche im 19. Jahrhundert, Dath für den neoliberalen Monopolkapitalismus des 21. Jahrhunderts. Doch diese analytisch überzeugende Anlage des Textes mündet in einer unfassbar leblosen Inszenierung, die auch durch ein paar Musikeinlagen und den Einsatz von Videotechnik nicht über den Zustand des Wachkomas hinauskommt. Einzig für die zentrale Szene der Stadtversammlung kann die Inszenierung eine gute Lösung anbieten: Das Publikum wird geteilt, es gibt zwei Bühnen, per Video verbunden. Die Szene wird zu einem Lehrstück über Demokratie und Populismus, über den Diskurs der Wohlgesinnten und den Volksfeind, der das Establishment hasst. An dieser Stelle, wo Bühne gegen Bühne und Recht gegen Recht steht, entsteht ein Kraftfeld des dramatischen Geschehens.
Beide Stücke, »Schiff der Träume« und »Ein Volksfeind« in der Neufassung, haben den Anspruch, die Gegenwart politisch zu fassen. Und beide scheitern auf ihre Weise. »Schiff der Träume« bietet ein mehrstündiges pointensicheres Bühnengeschehen, allein es fehlt eine analytische Grundlage und auch eine Idee, welche die zahlreichen Einfälle verbinden könnte. »Ein Volksfeind« hat das analytische Potential, doch mangelt es an ästhetischer Form, um den Text für ein Publikum verbindlich zu machen. Die Diskussion über Theater und Politik wird weiter zu führen sein. Und man wird Stücke und Inszenierungen benötigen, die ästhetische Lösungen anbieten. Das Theatertreffen blieb in dieser Hinsicht enttäuschend.