Die zweite Staffel des Podcast »Serial«

Ein freischwebender Astronaut

Die zweite Staffel des Podcast »Serial« widmete sich dem Soldaten Bowe Bergdahl, der seine Einheit verließ und in der Wüste Afghanistans verschwand. Sarah Koenig erzählt diese Geschichte in atemberaubender Weise.

Wer die Geschichte in den Nachrichten verfolgt hat, wird sich erinnern, wie Bowe Bergdahl aussieht. Er sieht gut aus – auf eine sehr amerikanische Weise: groß, nett, breitschultrig und sportlich. Dauerhaft beeindruckend an seiner Erscheinung ist aber etwas anderes. Auf sämtlichen Fotos – egal, ob sie vor, während oder nach seiner Gefangenschaft aufgenommen wurden – blickt Bergdahl mit einem Ausdruck unüberwindlicher Schüchternheit in die Kamera.
Als der 23jährige Soldat aus Idaho im Juli 2009, nur wenige Monate, nachdem er bei der US Army angeheuert hatte, auf seinem Außenposten im östlichen Afghanistan eines Nachts nicht zum Wachwechsel erschien, stand nach wenigen Stunden fest: Bowe Bergdahl war, ausgerüstet mit einem Notizbuch, einem Messer und etwas Proviant, aus freien Stücken in die afghanische Wüste gelaufen. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt, denn Bergdahl geriet nach wenigen Stunden in die Hände von Taliban, wurde fünf Jahre lang unter grauenvollen Bedingungen in Pakistan festgehalten und kam erst im Mai 2014 bei einem Gefangenenaustausch frei. Zurzeit verrichtet er auf seinem Heimatstützpunkt in Texas einen Bürojob und wartet auf seinen Prozess vor einem amerikanischen Militärgericht.
Unter den medialen Gesichtspunkten von Sensationsgehalt, Aktualität und Melodramatik ist die Geschichte nicht nur kurz, sondern auch verbrannt – mehr als der Thrill, der beim Betrachten des von Taliban gedrehten Entlassungsvideos entsteht, ist aus der Sache nicht herauszuholen. Zumal spätestens nach Bergdahls Rückkehr klar wurde, dass der Verlauf der Ereignisse für das Erzählmuster »gefangener und geretteter Held« zu kompliziert ist. Dass Bergdahl sich bis heute standhaft weigert, mit Journalisten zu sprechen, macht die Sache nicht attraktiver. Dennoch oder gerade deshalb hat sich die Radiojournalistin Sarah Koenig, die in Amerika vor allem als Produzentin der außergewöhnlichen Dokumentationssendung »This American Life« bekannt ist, des Falls angenommen und ihn in einer großangelegten Radioreportage verarbeitet, die in den vergangenen Monaten in elf Folgen als zweite Staffel der Pod­castserie »Serial« gesendet wurd; auch als vollständige Staffel kann sie kostenlos gestreamt oder heruntergeladen werden.
Es kommt tatsächlich manchmal vor, dass Soldaten ihre Truppe verlassen und verschwinden: im Suff, als Mutprobe, aus Frust oder Wut, in seltenen Fällen auch aus politischen Gründen. Dass ein amerikanischer Soldat über den schützenden Stacheldraht seines Camps klettert, um allein in das unübersichtliche Afghanistan zu laufen, wo er weder in der Lage ist, sich zu verständigen, noch die gebeutelten und misstrauischen Einheimischen von Taliban oder Kämpfern verschiedener Clans unterscheiden kann – das allerdings ist sehr unwahscheinlich. Außer das Motiv ist Selbstmord. Aber Bowe Bergdahl war kein Selbstmordkandidat. Gleich in der ersten Folge findet Sarah Koenig ein umwerfendes Bild für die Situation, in die sich Bergdahl durch seinen radikalen Entschluss gebracht hat: »Ich stelle ihn mir als Astronauten vor, der ohne die tröstende Verbindung zum Mutterschiff völlig allein im Weltraum schwebt.«
So viel sei verraten: Der Podcast verdeutlicht, warum der Astronaut das Halteseil gekappt hat – und man kann die Naivität, den Todesmut, den Idealismus und die Verzweiflung ermessen, die zu Bergdahls Entscheidung geführt haben. Um diese komplexe, sehr individuelle Gefühlslage nachzuvollziehen, bedient sich Sarah Koenig der Tonbandaufzeichnungen von Telefonaten, die der Drehbuchautor Mark Boal (u. a. für das Kriegsdrama »The Hurt Locker«) mit Bergdahl nach dessen Freilassung geführt hat. Den Details der politischen und militärischen Umstände, in denen aus dieser Gefühlslage eine fatale Entscheidung folgte, rückt sie mit den klassischen Mitteln des investigativen Journalismus zuleibe. Eine unglaubliche Frage- und Wühlarbeit liegt hinter ihr, als sie im Dezember 2015 anfängt, ihren Hörern die Ergebnisse zu präsentieren. Nach und nach, Folge für Folge, klärt sich der Fall Bergdahl und erhellt für einen Moment den riesigen und verwinkelten Raum des Afghanistan-Kriegs.
Man erfährt von konkurrierenden Konzepten innerhalb der amerikanischen Militärstrategie in Afghanistan genauso wie von der Art und Weise, wie in diesen Jahren in den USA Soldaten rekrutiert wurden, vom Verhältnis des Haqqani-Netzwerks zu Pakistan, von Kindheiten im ländlichen Amerika (Homeschooling, emotionale Unterversorgung, Massen an Schusswaffen), von Details und schrecklichen Pannen in den Friedensgesprächen mit den Taliban. Man hört Generäle und Soldaten in allen Dialekten Nordamerikas von der zunehmenden Verunsicherung und Frustration in diesem speziellen, ungewinnbaren Krieg sprechen: »Wir waren gekommen, um die Bösen zu töten, die unser Land angegriffen haben – und was haben wir gemacht? Decken und Buntstifte verteilt!« Man hört von den alles dominierenden Begleitern des Kriegs: Langeweile, Angst und Sackratten. Und man lernt und versteht, was unter Soldaten das größte Tabu ist: weglaufen, seine Truppe im Stich lassen.
Kein Zeitungsartikel, keine noch so engagierte Dokumentation im Fernsehen könnte ein so umfassendes und differenziertes Gesamtbild zeichnen. Das liegt auch, aber nicht nur an der ungewöhnlich langen Sendezeit, die der Serie zur Verfügung gestanden hat. Zusätzlich sind Sarah Koenig und ihrem Team vom öffentlichen Radiosender WBEZ Chicago sehr große Freiheiten eingeräumt worden. Weder stand von vornherein fest, wann die erste Folge der Staffel erscheint, noch, wie viele Folgen es überhaupt geben würde. Und als die Macher nach der Ausstrahlung der ersten Sendungen merkten, dass sie die Menge an zusätzlich eintrudelndem Material nicht mehr sinnvoll aufarbeiten konnten, wechselten sie kurzerhand von einem einwöchigen auf einen zweiwöchigen Erscheinungsrhythmus.
Ein weiterer Grund für das Gelingen der Serie ist die Haltung, aus der heraus sie gemacht wurde. Sarah Koenig leistet sich eine Engagiertheit, die mit politischer Gesinnung so viel zu tun hat wie Sahnetorte mit Knäckebrot. Nicht Pazifismus, nicht grundsätzliche Kritik an US-amerikanischer Außenpolitik, sondern Sympathie für den komplizierten Menschen Bowe Bergdahl steht am Anfang ihres Fragens und ermöglicht, ja erzwingt erst die Hartnäckigkeit und Unbestechlichkeit, mit der sie arbeitet. Immer wieder kommt sie beispielsweise auf den in Veteranenkreisen lautstark erhobenen Vorwurf zurück, dass als Folge von Bergdahls Verhalten mindestens sechs Mitsoldaten getötet worden seien. Sie macht den Vorwurf stark, sammelt Beweise, lässt die Ankläger ausführlich zu Wort kommen, kriecht förmlich in sie hinein und stellt die Sache aus ihrer Sicht dar – nur, um in der Folge darauf Gegenbeweise zu liefern, noch einmal auf die Seite der Ankläger zu wechseln und schließlich die ganze Frage neu zu stellen und auf eine andere Ebene zu heben. In den Interviews, die Sarah Koenig mit Bergdahls wenigen Freunden aus Idaho, mit Soldaten, Generälen, Politikern und Journalisten führt, wird diese Engagiertheit auch hörbar: Sie fragt und bohrt, sie lacht, widerspricht, zögert, macht »hmhm« und »a-ha«, zeigt ihre Gefühle (»Really?! O my god!«), ist geradeheraus und selbstironisch und verführt damit sogar ihre Gesprächspartner aus Militärkreisen zu einer Ehrlichkeit und Klarheit, die beeindruckend ist.
Radio ist hier nicht Fernsehen ohne Bilder, sondern eine ästhetische Form mit eigenen Gesetzen und eigenen Möglichkeiten: Musik, Interviewausschnitte, Kommentare und Geräusche werden mit so viel Gespür für Timing und Dramaturgie kombiniert, dass manchmal atemberaubende Klangcollagen entstehen, die Multiperspektivität hörbar werden lassen.
Die Wahrheit dieser Geschichte kommt zum einen deshalb ans Licht, weil alle ihre Seiten beleuchtet werden – zum anderen aber, weil die Macher nicht bei den typischen Ergebnissen des investigativen Journalismus stehengeblieben sind. In Bowe Bergdahls Fall wimmelt es von Pannen, kleinen Skandalen, illegalen Aktionen, strategischen Fehleinschätzungen, unterdrückten Meinungen und Kommunikationsdesastern – Fehlern im System, die man dem Publikum mit der triumphierenden Geste des Enthüllungsjournalisten hätte präsentieren können. Sarah Koenig versagt sich diese Geste und kommt in der großartigen letzten Folge der Serie gemeinsam mit den Hörern zu einem ungewöhnlichen Fazit: Bowe Bergdahls Leidensgeschichte und all die anderen Leidensgeschichten, die mit ihr verflochten sind, wurden nicht durch Fehler im System, sondern durch das System selbst verursacht. Oder, wie Sarah Koenig es in unnachahmlicher Direktheit ausdrückt: »These things happen in war. They are normal.«
In einer der letzten Sequenzen der Serie kommt noch einmal Bergdahl selbst zu Wort. Monate, bevor Koenig für ihn das Bild des freischwebenden Astronauten erfindet, beschreibt er dem Filmemacher Mark Boal die Gefühle, die er während seiner kurzen Flucht beim Anblick des Sternenhimmels hatte: »Ich weiß nicht, ich war plötzlich so erleichtert, dass die ganze Dummheit, die ganze Angst nur so weit geht, wie dieser Punkt, dieses Haus, diese kleine Erde … «
»Serial« lief im Oktober 2014 als Spin-off der Radiosendung »This American Life« an und gilt als weltweit erfolgreichster Podcast. Für die erste Staffel, die über 80 Millionen Mal heruntergeladen wurde, zeichnete Sarah Koenig den mysteriösen Mordfall an Hae Min Lee nach, einer 18jährigen Schülerin aus Baltimore, die im Februar 1999 tot aufgefunden und deren ehemaliger Freund für die Tat verantwortlich gemacht wurde. Thema und Starttermin der dritten Staffel wurden bislang nicht bekanntgegeben. https://serialpodcast.org