Swetlana Sidorkina im Gespräch über den Umgang der russischen Justiz mit ukrainischen Antifaschisten

»Es gibt keine unabhängigen Gerichte«

Die Anwältin Swetlana Sidorkina von der russischen Menschenrechtsorganisation Agora verteidigte den ukrainischen Filmregisseur Oleh Senzow sowie den ukrainischen Antifaschisten Alexander Koltschenko (»Jungle World« 36/2015), die 2014 auf der von Russland besetzten Krim festgenommen wurden. Sie hatten an Demonstrationen gegen die russische Intervention teilgenommen. Sidorkina bezeichnete den Prozess gegen die beiden Männer, die im August 2015 zu 20 beziehungsweise zehn Jahren Haft verurteilt wurden, in ihrem Schlussplädoyer als »Schandfleck für die russische Justiz«. Mit dem Prozess sollte die Existenz eines »terroristischen Untergrunds« auf der Krim bewiesen werden. Mit der Anwältin, die auch den Moskauer Antifaschisten Alexej Olesinow verteidigt hat, sprach die »Jungle World« auf dem Filmfestival »Go East« in Wiesbaden, wo Sidorkina bei einer Veranstaltung an den Fall Senzow erinnerte.

Oleh Senzow soll jüngst einem Besucher im Gefängnis gesagt haben, er unternehme durch seine Haftverlegungen eine hochinteressante Reise durch die Russische Föderation. Wie geht es Senzow und Koltschenko?
Wenn man etwa an die kürzliche Gerichtsentscheidung denkt, dass die Haftbedingungen von Anders Breivik in Norwegen teilweise die Menschrechtskonvention verletzten, dann kann man die Umstände in Russlands Gefängnissen und Lagern damit nicht ansatzweise vergleichen. Breivik würde wahrscheinlich denken, er sei in der Hölle gelandet, säße er in Russland im Gefängnis. Aber die Russen sind duldsam, auch was solche Haftbedingungen angeht. Senzow und Koltschenko haben sich nicht über die Haftbedingungen beschwert und die Situation so genommen, wie sie eben ist. Koltschenko ist nun in Tscheljabinsk hinter dem Ural im Gefängnis, Senzow ist in Jakutsk inhaftiert, im fernen Osten. Als Künstler waren für ihn die Haftverlegungen tatsächlich besonders interessant, weil er so mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen ist, die er sonst nie kennengelernt hätte.
Warum ist er so weit im Osten Russlands in Haft?
Dass Senzow seine Haftstrafe in Jakutsk verbüßt, ist rechtswidrig. Nach den gesetzlichen Bestimmungen sollen Verurteilte nicht mehr als 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt inhaftiert werden. Jakutsk ist aber über 8 900 Kilometer von der Krim entfernt, wo Senzow lebt. Das war eine Willkürmaßnahme. Diese Verlegungen in entfernte Gebiete haben aber auch den Zweck, die öffentliche Aufmerksamkeit zu minimieren. Auch der Zugang zu den Häftlingen wird natürlich erschwert. Ich konnte Senzow dort noch nicht persönlich sprechen.
Gibt es in Russland überhaupt noch so etwas wie Unabhängigkeit der Justiz?
Bei politischen Fällen gibt es in der Gerichtspraxis kaum noch Hoffnung, dass man in irgendeiner Form einen positiven Ausgang erreichen könnte. Es gibt keine unabhängigen Gerichte, die von politischer Einflussnahme frei wären. Als Anwälte setzen wir unsere Hoffnung in der Regel auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Aber seit dem Yukosprozess (Verfahren um den Erdölkonzern Yukos, Anm. d. Red.) sind die Gesetze dahingehend verändert worden, dass das russische Verfassungsgericht das letzte Wort hat, auch gegenüber Urteilen des Menschrechtsgerichthofes. Deswegen sind mittlerweile einige unserer Berufungsklagen gescheitert.
Man hat Senzow und Koltschenko ausdrücklich vorgeworfen, sie seien Mitglieder des »Rechten Sektors«, einer faschistischen ukrainischen Organisation.
Die Ereignisse auf der Krim sind bei uns in den Medien so dargestellt worden, dass die Russische Föderation auf der Krim einen zweiten Maidan verhindert hat. Und der Maidan ist in dieser Lesart vom »Rechten Sektor« inszeniert worden. Das war auch die Idee hinter den Ermittlungen gegen Senzow und die anderen. Dabei haben Senzow und Koltschenko immer betont, dass sie nichts mit dieser Organisation zu tun haben, und es gab auch keinerlei Beweise für ihre Mitgliedschaft. Im Urteil war dann auch keine Rede mehr davon. Dabei war das eigentlich die Grundlage der ganzen ursprünglichen Anklage. Alexander Koltschenko bezeichnet sich selbst übrigens als Antifaschisten und er hat während des Prozesses besonders viel Unterstützung von russischen Anarchisten und Antifaschisten bekommen.
Oleh Senzow hat vor Gericht angegeben, gefoltert worden zu sein. Der Staatsanwalt hat die sichtbaren Blessuren damit begründet, man habe in Senzows Wohnung SM-Gerätschaften gefunden.
Das war einfach eine respektlose Äußerung des Staatsanwalts. Damit wollte er Senzow demütigen.
Wie hat sich die Justiz in Russland in den vergangenen Jahren verändert?
Ich bin seit 2002 Anwältin und habe seitdem für Agora viele Aktivisten vor Gericht vertreten. In dieser Zeit haben sich einige sehr markante Veränderungen ereignet. Früher haben die Gerichte gerne auf die Paragraphen gegen »Rowdytum« zurückgegriffen, da gab es einen Strafrahmen von maximal sechs bis sieben Jahren. Dann kam der Straftatbestand des Terrorismus, den nimmt man jetzt, da ist die Höchststrafe 20 Jahre. Die beiden anderen wichtigen neuen Gesetze betreffen die Vergehen der Spionage und der Verletzung der territorialen Integrität. Aber es geht nicht nur um die Erhöhung des Strafmaßes, bei diesen Anklagen sind nun Militärgerichte zuständig. Innenpolitische Ereignisse wie die Demonstrationen nach der Wiederwahl Putins 2012 haben jeweils Gesetzesverschärfungen nach sich gezogen, wie bei den Terrorismus- und Extremismusparagraphen. Ein Ergebnis des Prozesses gegen Pussy Riot war die Einführung eines Paragraphen wegen Verletzung religiöser Gefühle. Da gibt es bereits Prozesse. Nach den Ereignissen auf der Krim kam das Gesetz gegen die Verletzung der territorialen Integrität. Der neue Trend sind Anklagen wegen Meinungsäußerungen in den sozialen Netzwerken. Ein Mandant von mir steht nun vor Gericht, weil er bei V-Kontakte, dem russischen Pendant zu Facebook, einen Artikel zur Krim gepostet hat.
Sie sprachen bei der Veranstaltung von Gefangenen wie Senzow oder der Pilotin Nadija Sawtschenko als »Geiseln des ukrainischen Konflikts«. Geht es da letztlich darum, Verhandlungsmaterial in die Hand zu bekommen?
Ich kann nur vermuten, dass die ukrainischen Gefangenen in Russland, aber auch die russischen Gefangenen in der Ukraine, dazu dienen sollen, dass man schließlich auf hoher politischer Ebene zu einer Einigung kommt. Darauf hoffen letztlich alle, dass das so gelöst wird, durch einen Austausch oder dadurch, dass die Haftstrafen in den jeweiligen Herkunftsländern verbüßt werden sollen.
Übersetzung: Irina Bondas