Das Filmfestival von Cannes

Problemfamilien aus sicherer Entfernung

Im Rahmen des Festivals von Cannes, das in diesem Jahr zwischen dem 11. und 22. Mai stattfand, wurde wenig Aufsehenerregendes geboten. Einige gelungene Filme waren dennoch zu entdecken.

Das Filmfestival von Cannes bietet einiges: Palmen, Promis, rote Teppiche – sogar am Eingang des Hautbahnhofs. Gute Filme sucht man unter den über 1 000 Beiträgen allerdings lange. Vor allem der Wettbewerb bietet selten mehr als großes, konventionelles Erzählkino: unterhaltsam, hübsch anzusehen und emotional anrührend, aber künstlerisch betrachtet so ansprechend wie ein Baguette vom Vortag. Wer gewagte und unbequeme Filme sehen will, konzentriert sich auf die Nebenreihen. Oder besucht andere Festivals.
Thierry Frémaux, dem Leiter des Festivals von Cannes, werden seit langem Klientelismus und Misogynie bei der Filmauswahl vorgeworfen. Er lädt, genau wie seine Vorgänger, seit vielen Jahren die gleichen Weltstars wie Woody Allen, Atom Egoyan und Pedro Almodóvar ein. Newcomer haben es schwer, Frauen ganz besonders.
Dennoch ist es Maren Ade – jung, weiblich und in Cannes gänzlich unbekannt – gelungen, ihren Film »Toni Erdmann« im Hauptwettbewerb zu platzieren. Die internationale Presse würdigte den ersten Wettbewerbsbeitrag aus Deutschland seit acht Jahren auf Anhieb, die Kritiker von Le Monde bezeichneten ihn als »unglaublich«. Der Plot ist übersichtlich: Winfried und seine Tochter Ines haben sich nicht viel zu sagen. Er ist ein ehemaliger 68er, sie Unternehmensberaterin. Winfried beschließt, es muss sich etwas ändern, und fällt in Ines’ Leben ein, auf eine gleichermaßen penetrante wie komische Art: ausgestattet mit Furzkissen, falschen Zähnen und Zottelbär-Kostüm. Den Schauspielern Peter Simonischek und Sandra Hüller gelingt es, eine große Bandbreite an Emotionen glaubwürdig darzustellen. Lachen und Weinen liegen nah beieinander – ohne es gewollt wirken zu lassen.
Ein weiterer Newcomer ist der Brasilianer Kleber Mendonça Filho, dessen Drama »Aquarius« zu einem der besten Arbeiten des Festivals gehört. Das liegt zum einen an der sensiblen, eleganten und souveränen Hauptdarstellerin Sônia Braga, die in Brasilien als Telenovela-Star und Sexsymbol verehrt wird, wobei ihr Letzteres nicht gerecht wird: Sexappeal ja, nur stellt sie gerade sexuell emanzipierte Frauen dar, keine Objekte. Gelungen ist »Aquarius« auch wegen seines herausragenden Soundtracks, der einen Bogen von Queen bis zum brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos spannt. Klar, dass Musik eine große Rolle spielt, schließlich ist Protagonistin Clara Musikkritikerin. Der Sound unterstreicht das Gefühl von Nostalgie, das für die Handlung wesentlich ist: Clara bewohnt seit Jahrzehnten dasselbe Apartment an der Strandpromenade von Recife. Eine Baufirma kauft nach und nach Wohnungen in dem Gebäude, dem Aquarius, auf und setzt alles daran, auch die letzte Bewohnerin hinauszuekeln. »Nur über meine Leiche«, faucht Clara und bleibt. Regisseur Mendonça Filho sagt im Interview, ihm tue weh, wie alte Häuser binnen weniger Stunden niedergerissen werden, mit all ihren Erinnerungen. Die Idee zum Film sei ihm allerdings durch Telefonanrufe gekommen – von Vertretern, die ihm Kreditkarten, Versicherungen und Zeitschriften verkaufen wollten. »Ich fühlte mich angegriffen von einem Markt, der Menschen gegen ihren Willen zum Kaufen verleiten will.«
Mit eben diesen Verkäufen bestreitet Star, die Protagonistin in Andrea Arnolds Wettbewerbsfilm »American Honey«, ihren Lebensunterhalt. Zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher, allesamt aus Problemfamilien, geht sie von Tür zu Tür und verkauft Zeitschriftenabonnements. Mal wird sie rausgeworfen, mal dreist angemacht, doch alles ist besser als das Leben, vor dem sie davongelaufen ist: eine abwesende Mutter, ein Stiefvater, der sie sexuell missbraucht, und eine Armut, die sie zwang Lebensmittel aus dem Müll zu fischen. »American Honey« ist eine raue Milieustudie, ein launiger Roadtrip sowie ein sensibles Coming-of-Age-Drama (letzteres ist Arnold bereits 2009 mit »Fish Tank« gelungen). Das Ganze dauert knapp drei Stunden, was aber nicht weiter schlimm ist, denn »American Honey« vibriert vor Leichtigkeit und Lebendigkeit. Arnold hat Hauptdarstellerin Sasha Lane am Strand gecastet, Schauspielerfahrung hatte diese keine – so wie fast keiner der Darsteller. Arnold gab ihnen lediglich die Anweisung, »sie selbst zu sein«. Diese Freiheit meint man ihnen anzumerken, zum Beispiel, wenn sie zu Rihannas »We Found Love« tanzen – in der texanischen Wüste sowie an der Kasse bei Walmart. Die Fröhlichkeit von Star und ihren Kollegen sowie die vor Sonnenlicht berstenden Aufnahmen der Weiten des Mittleren Westen erzeugen, bei aller Misere, einen positiven Grundton: Für Star gibt es Hoffnung.
»I, Daniel Blake«, der Wettbewerbsbeitrag des fast 80jährigen Briten Ken Loach, ist deutlich düsterer. Seinem Protagonisten, Daniel Blake, gelingt kein Ausbruch aus dem System, das ihn quält. Wegen eines Herzinfarkts muss er für ein paar Monate seine Arbeit als Zimmermann niederlegen. Eine Mitarbeiterin der für Sozialleistungen zuständigen Behörde kommt allerdings zu dem Schluss, dass Daniel sehr wohl arbeitsfähig sei und ihm kein Krankengeld zustehe. Daniel muss Arbeitslosenhilfe beantragen, die er jedoch nur erhält, wenn er 35 Stunden die Woche nach Arbeit sucht. Man zwingt ihn, an einem »CV-Workshop« teilzunehmen, anderenfalls gibt es kein Geld mehr. Nur besitzt Daniel weder einen Lebenslauf noch einen PC. Im Jobcenter lernt er die alleinerziehende Katie kennen, die in einer ähnlich desolaten Lage ist: arbeitslos, zwei Kinder und kein Geld für Essen oder Heizung. Sie freunden sich an und trotzen gemeinsam den alltäglichen Zumutungen.
Ken Loach klagt den Ausverkauf des britischen Sozialstaats an. Der Auslöser für den Film seien die Hetzkampagnen der Boulevardpresse über vermeintlichen Sozialleistungsbetrug gewesen, sagt Drehbuchautor Paul Laverty. Er und Loach hätten sich daraufhin auf Recherchereise begeben: in Jobcenter, Essensausgaben und zur Obdachlosenhilfe. Dabei seien sie zu folgendem Schluss gekommen: »Sogar Gefangene werden besser behandelt, ihre Strafen sind häufig weniger hart als die Sanktionen, die man Sozialhilfeempfängern auferlegt.« Die Aussage von »I, Daniel Blake« ist eindeutig, auf Effekte wurde verzichtet. Ein langsames Erzähltempo, ein ruhiges Kameraauge, das geduldig auf den Gesichtern der beiden Protagonisten ruht, minimalistische Fotografie und der Verzicht auf Musik sorgen für eine bedrückende Atmosphäre.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Allerdings ist ihr jüngster, im Wettbewerb des Festivals laufender Film »La Fille inconnue« eine Enttäuschung: langatmig, unentschlossen und weitaus weniger politisch als seine Vorgänger. Für das Festival anscheinend kein Problem, der Name der Filmemacher allein sorgt für großen Rummel, da ist die Qualität zweitrangig. Man muss es leider sagen: Die erwähnten Filme waren Ausnahmen, Leuchttürme inmitten eines schlammigen Meeres von Einfallslosigkeit und Mittelmäßigkeit. Lang lebe Cannes.