Homosexuelle Männer, die nach 1945 strafrechtlich verfolgt worden sind

Straftat: Schwulsein

Ein von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten verpflichtet die Bundesregierung, die systematische Verfolgung homosexueller Männer nach 1945 politisch aufzuarbeiten und die Opfer zu rehabilitieren.

»Die Bundesregierung kann sich nicht länger hinter Scheinargumenten verstecken, wonach eine Aufhebung der Urteile rechtlich nicht möglich wäre«, sagt Axel Hochrein, der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD), und fügt hinzu: »Das Gegenteil ist der Fall.« In der Tat steht die Bundesrepublik ethisch, rechtlich und politisch in der Pflicht, homosexuelle Männer, die auch nach 1945 noch systematisch nach Paragraph 175 des Strafgesetzbuches (StGB) verfolgt wurden, kollektiv zu rehabilitieren. Zu diesem Schluss kommt ein von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten des Staatsrechtlers Martin Burgi, das die Behörde am 11. Mai veröffentlichte. Der Juraprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität München kommt darin zu dem Ergebnis, dass sowohl die kollektive Aufhebung der bis heute gültigen Strafurteile und Vorstrafen auf Grundlage des Paragraphen 175 als auch die Entschädigung der Betroffenen nicht nur rechtlich zulässig, sondern politisch geboten sei. Die Rehabilitierung solle die verletzte Menschenwürde der Betroffenen wiederherstellen, den individuellen »Strafmakel« und das »sozialethische Unwerturteil«, das pauschal über schwule Männer verhängt wurde, politisch anerkennen und als solches aufarbeiten. Die Entschädigung könne ebenfalls kollektiv erfolgen in Form eines finanziellen Fonds für Aufklärungs-, Erinnerungs- und Bildungsarbeit zur Verfolgungsgeschichte, so die Empfehlung Burgis – angegliedert etwa an die »Bundesstiftung Magnus Hirschfeld«. Die nach dem schwulen jüdischen Arzt, sexualwissenschaftlichen Aufklärer und Reformer benannte Stiftung erforscht und archiviert die Geschichte der Bewegung von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) beziehungsweise der Homosexuellenverfolgung.
Das Gutachten stützt sich im Kern auf die Verfolgung der »einfachen Homosexualität« – also einvernehmliche sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern –, die in der DDR grundsätzlich noch bis 1968, im Westen bis 1969 strafbar war. Die DDR hatte im Zuge ihrer Gründung den vormaligen Paragraphen 175 zu »beischlafähnlichen Handlungen« zwischen Männern aus der Zeit des Kaiserreichs in ihr Strafgesetzbuch übernommen. Die restaurative Bundesrepublik übernahm mit ihrer Gründung 1949 direkt die von den Nationalsozialisten 1935 verschärfte Variante des Paragraphen 175 zur sittenwidrigen »Unzucht« zwischen Männern unverändert in geltendes Recht – samt den dahinterstehenden völkisch-reaktionären Vorstellungen von »Sittlichkeit« und »Volksgesundheit«. Die Folge war, dass aus den Konzentrationslagern befreite »Rosa Winkel«-Häftlinge in den Anfangsjahren der BRD mitunter wieder in Haft wanderten, um ihre Reststrafe zu verbüßen, oder Akten von NS-Behörden zur Wiederaufnahme der Strafverfolgung herangezogen wurden.
Die ideologischen, administrativen und personellen Kontinuitäten zwischen der Strafverfolgung im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik zeigen sich exemplarisch am heute 97jährigen Frankfurter Wolfgang Lauinger, einem der letzten Zeitzeugen, die noch die Verfolgung unter den Nationalsozialisten und in der BRD erlebt haben. Als Mitglied einer Jugendprotestkultur, als »Halbjude« und als Homosexueller ins Visier der Gestapo geraten, wurde deren Aktenvermerk »Wird verdächtigt, homosexuell zu sein« dem bis Kriegsende in Deutschland Untergetauchten 1950 zum Verhängnis: Konfrontiert mit demselben Staatsanwalt, der bereits im NS mit der Verfolgung der Frankfurter Homosexuellen und einem hierzu eigens eingerichteten Dezernat betraut war, saß Lauinger aufgrund dieser Aktenlage mehr als ein halbes Jahr ohne Anklage in Haft. »Wegen derselben Akten, die im selben Gebäude in der Lindenstraße«, vormals Sitz des Gestapo-Hauptquartiers in Frankfurt am Main, »noch fünf Jahre vorher von denselben Beamten erstellt wurden«, wie er im Videointerview des »Archivs der anderen Erinnerungen« der Hirschfeld-Stiftung betont.
Insbesondere die in der BRD zwischen 1949 und 1969 eifrig betriebene Strafverfolgung stuft das Gutachten als eine Phase der »rechtlichen Kontinuität« in der »Tradition der nationalsozialistischen Gesinnungsvorschriften« ein, in der Homosexualität »quantitativ auf einem sehr hohen Niveau«, »systematisch« und »intensiv« verfolgt wurde. Mit rund 100 000 Anklagen und zwischen 45 000 bis 50 000 Verurteilungen sei es in diesem Zeitraum »zu ähnlich vielen Strafverfahren« wie in der NS-Zeit gekommen, so die düstere Bilanz.
Neben Repression in Form von Haft- und Geldstrafen waren im restaurativen Klima der Nachkriegs-BRD gesellschaftliche Ächtung und Ausgrenzung, Erpressung und Denunziation einschließlich des Verlusts der Wohnung sowie des Arbeitsplatzes die Folgen. Für Betroffene bedeutete dies häufig die Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz, die etliche in den Suizid trieb. Während der betreffende Paragraph 175 des DDR-Srafgesetzbuchs ab 1957 nicht mehr angewandt und 1968 ganz gestrichen wurde, schaffte der Bundestag den entsprechenden Paragraphen im wiedervereinigten Deutschland erst 1994 endgültig ab. Bis dahin hatte er in Westdeutschland männliche homosexuelle Kontakte mit einer im Vergleich zu heterosexuellen Kontakten willkürlich höher angesetzten Jugendschutzaltersgrenze diskriminiert. Der reaktionäre Geist einer gesonderten Behandlung männlicher Homosexueller reichte bis in die achtziger Jahre. Er spiegelte sich in »Rosa Listen« wider, die von einigen Länderpolizeien, etwa in Bayern oder West-Berlin, über vermeintliche oder tatsächliche Schwule und ihre Kontaktpersonen geführt wurden.
LSVD, Deutsche Aidshilfe (DAH) und die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) begrüßen das Ergebnis des Gutachtens, fordern zugleich aber die individuelle Entschädigung der Betroffenen. Ihre Kampagne »Offene Rechnung: § 175 StGB« soll nun über die leidvollen Erfahrungen und Folgen der Diskriminierung aufklären, vor allem aber den politischen Druck erhöhen, die Empfehlungen des Rechtsgutachtens zügig umzusetzen. Die politische Debatte zu Rehabilitierung und Entschädigung der »175er«, wie schwule Männer in der Umgangssprache lange Zeit abfällig bezeichnet wurden, zieht sich schließlich seit 1995 hin. Immer wieder wurden politische Vorstöße mit verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedenken abgeschmettert, etwa mit Verweis auf den Grundsatz der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung, wonach die jetzige Legislative ehemals getroffene höchstrichterliche Entscheidungen nicht aufheben könne – so argumentierte zuletzt auch 2015 die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen. Dagegen ist das neue Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass der kollektiven Aufhebung der Strafurteile nichts im Wege stehe.
Der Paragraph 175 sei »von Anfang an verfassungswidrig, die alten Urteile Unrecht« gewesen, sagte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) und kündigte einen entsprechenden Gesetzentwurf an. Gegen weitere Verzögerungen machen die schwullesbischen Verbände und Senioren mobil, schließlich sind die noch lebenden Betroffenen teils hochbetagt. »Wir fordern eine Aufhebung der Urteile und Entschädigung für die Opfer, bevor der Tod kommt«, erklärte das BISS-Vorstandsmitglied Reinhard Klenke. Lauinger mit seinen 97 Jahren kämpft zusammen mit anderen Senioren für die Rehabilitierung. Es sei seine »letzte große Lebensaufgabe«.