Das Filmfestival »Unknown Plea­sures« in Berlin

Love Will Tear Us Apart

Das Festival »Unknown Pleasures« zeigt eine Auswahl amerikanischer Independent-Produktionen, darunter Filme von Frederick Wiseman und Ed Pincus.

Die Julio Riviera Corner ist in Frederick Wisemans Film »In Jackson Heights« (2015) ein geographisch, aber auch erinnerungspolitisch wichtiger Ort. Im New Yorker Stadtteil Queens, an der Kreuzung zwischen 78. Straße und 37. Avenue, wurde 1990 ein junger schwuler Barkeeper von drei Skinheads ermordet. Auf Initiative der örtlichen LGTB-Community hin erinnert ein Straßenschild an Riviera, außerdem setzt jährlich die Queens Pride Parade zu seinem Gedenken ein Zeichen gegen Diskriminierung. Als Wiseman mit seiner Kamera vor Ort ist, erfasst er einen historischen Moment: Mit Bill de Blasio nimmt zum ersten Mal ein New Yorker Bürgermeister an der Parade teil.
»In Jackson Heights« ist bei der achten Ausgabe des in Berlin stattfindenden Filmfestivals »Unknown Pleasures« der zentrale Programmpunkt, von dem ausgehend sich ­Bezüge zu den anderen Filmen aufzeigen lassen – sei es zu »Stinking Heaven« (2015), Nathan Silvers dokumentarisch anmutendem Spielfilm über eine Kommune ehemaliger Drogenabhängiger oder auch Michael Almereydas »Experimenter« (2015) – einem Biopic über den Sozialpsychologen Stanley Milgram, das die Regeln des biographischen Films mit Brechtschen Verfremdungseffekten, Rückprojektionen und einem auf Fluren wandelnden Elefanten sprengt. Dokumentarische Arbeiten bilden in dieses Jahr einen besonderen Schwerpunkt, eine politische Ausrichtung ist vielen Beiträgen gemein. Nicht zuletzt ist Wisemans gut dreistündiger Film ein Statement für Diversität und Gemeinschaftssinn. In seinem 40. Werk ­begibt sich der inzwischen 86jährige Dokumentarfilmer nach Jackson Heights, einem Quartier im New Yorker Stadtteil Queens, in dem so viele unterschiedliche Ethnien und Nationalitäten an einem Ort zusammen­leben wie in kaum einem anderen Teil der USA. 167 verschiedene Sprachen werden in Jackson Heights gesprochen, etwa die Hälfte der Einwohner ist im Ausland geboren.
Mit einem lebendigen Interesse für Menschen und Schauplätze fängt Wiseman die Vielfalt dieses Ortes in allen Farben und Schattierungen ein. Er filmt Straßenzüge, Gemüsestände, Hundesalons, Tattoostudios, Friseure, Hühnerschlachtereien, das Gebet in der Moschee, einen Gedenkgottesdienst in einer Synagoge wie auch eine spontane Fürbitte einiger Baptistinnen auf der Straße. Er zeigt eine Unterrichstunde für angehende Taxifahrer, in der ein mit den Talenten eines Comedian ausgestatteter Fahrlehrer seinen Schülern – Männern aus Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch – urkomische Eselsbrücken für das Memorieren der Himmelsrichtungen beibringt. Er beobachtet, wie eine Mitarbeiterin des Stadtparlaments am Telefon mit teils absurden Höflichkeitsformeln gegen eine hartnäckige Anruferin ankämpft (»I’m not here to agree or disagree with you«). Im Fokus von Wisemans Beobachtung steht jedoch das abseits der Institutionen selbstorgansierte kommunale Leben: die Treffen der LGTB-Community im ­Jewish Center, eine Initiative, die sich gegen die drohende Gentrifizierung zur Wehr setzt und von Geschäft zu Geschäft zieht, um die örtlichen ­Ladenbesitzer über die Lage zu informieren, ein Meeting für Immigranten, bei dem eine aus Mexiko eingewanderte Frau vom dramatischen Grenzübetritt ihrer Tochter erzählt, oder eine Gesprächsrunde einiger Transgender-Aktivisten und -Aktivistinnnen, in der Ausgrenzungserfahrungen besprochen werden. Wiseman gibt diesen Menschen und ihren Erzählungen den Raum, den sie brauchen; dabei verzichtet er oftmals auf eine verdichtende Montage. Eine Szene kann dann auch mal gut 20 Minuten dauern. Überhaupt ist das Reden – in den verschiedensten Sprachen, im Sprachmischmasch, Englisch macht nur einen Bruchteil aus – die Haupttätigkeit im Film. Auch hier fängt Wiseman eine Vielfalt an Sprechweisen und Sprachmodi ein, vom Beraten, Informieren, Unterrichten, Diskutieren über den Interessensaustausch und den Erfahrungsbericht bis hin zu den Sprechchören auf einer Demonstration. »In Jackson Heights« ist ein wacher, energetischer Film mit viel Witz und Situationskomik. Obgleich der Film von einem funktionierenden Gemeinwesen, selbstorganisiertem Aktivismus, Inklusion und Diversität erzählt, zeigt er auch Ausschlüsse, Verdrängung und die Schwierigkeiten, als Teil der Gemeinschaft angenommen zu werden. Das gilt für die vielen papierlosen Einwanderer, die auf einen legalen Aufenthaltstatus hoffen. Aber auch für den Bezirk Jackson Heights selbst, dessen Reichtum an Infrastruktur, an Interessens- und Kauf­spezialisierung von den global operierenden Großkonzernen (hier sind es mal nicht die Hipster) zerstört wird.
Das Sonderprogramm ist in diesem Jahr dem Werk von Ed Pincus gewidmet, einem Dokumentarfilmer, der die Filmabteilung am Massachusetts Institute of Technology gründete und als eine der Schlüsselfiguren für die in Boston ansässige Szene des dokumentarisch-ethnographischen Films gilt. Nach einem Studium der Philosophie und Fotografie in Harvard entstand 1967 in der Tradition des Direct Cinema »Black Natchez« (zusammen mit David Neuman), ein Film über die schwarze Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA. In »One Step Away« (1968) porträtierte Pincus erneut mit seinem Co-Regisseur die Hippie-Gemeinde in San Francisco, bevor er mit »Diaries« (1971–1976) einen radikalen Richtungswechsel vornahm. Im Kontext der Debatten über die Politisierung des Privaten suchte Pincus nach Ansätzen, autobiographische Erfahrung und gesellschaftliche Perspektiven zu verbinden. Für »Diaries« zeichnete er über einen Zeitraum von fünf Jahren mit der Kamera Episoden in seinem Leben auf, Hauptpersonen sind seine Frau Jane, die beiden gemeinsamen Kinder und seine Geliebten. »Diaries« ist über die »private« Aufzeichnung hinaus das Porträt einer experimentierfreudigen Zeit, in der es galt, die Grenzen eines Lebensentwurfs beständig zu erweitern. Dass diese Erfahrung bei den Beteiligten durchaus Spuren hinterlassen hat, wird auch in »One Cut, One Life« (2013) immer wieder spürbar. Es ist Pincus’ letzte Arbeit, die er gemeinsam mit der Filme­macherin Lucia Small realisierte. Nach einer Leukämiediagnose beschloss Pincus einen Film über seine Krankheit zu drehen. Mit einer gleichermaßen introspektiven wie bekenntnishaften Grundhaltung und einer zuweilen über die Grenzen der Selbstentblößung hinausgehenden Offenheit filmen Pincus und Small Arztbesuche, Gespräche über das Sterben, über das gemeinsame Arbeiten und die durch die Filmarbeit verursachten Konflikte mit Eds Ehefrau. »It feels like rape« bricht es aus der von der Präsenz der Kamera hochstrapazierten Jane einmal heraus. Auch wenn einem die Mischung aus intimer (Selbst)beobachtung und »talking cure« mitunter zu viel werden kann, ist »One Cut, One Life« nie sentimental oder wehleidig. Die schwere Krankheit und der bevorstehende Abschied des Filmemachers werden vergleichsweise leicht behandelt, weitaus schmerzhafter ist Janes Gefühl des Ausschlusses an­gesichts einer intensiven künstlerischen Zusammenarbeit und Freundschaft. »One Cut, One Life« bewegt sich beständig an der Grenze von gemeinschaftlichem Erleben und den Erfahrungsanteilen, die allein gelebt werden müssen.
Unknown Pleasures #8. Berlin, Kino Arsenal. Vom 3. bis 18.Juni