Die Taliban in Afghanistan haben einen neuen Anführer

Der Neue soll’s richten

Nach der Tötung Mullah Mansours durch eine US-Drohne in Pakistan haben die afghanischen Taliban einen neuen Anführer bestimmt.

Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres musste sich das Führungsgremium der afghanischen Taliban unter konspirativen Umständen im pakistanischen Exil zusammenfinden, um eine neue Spitze zu bestimmen. Mitte vergangener Woche wurde nach viertägigen Beratungen Mullah Haibatullah Akhundzada zum neuen Taliban-Anführer gekürt. Da die Taliban sich trotz ihrer Vertreibung aus Afghanistan Ende 2001 dort als rechtmäßige Herrscher sehen, steht der 55jährige Akhundzada obendrein der Exilregierung des von den Taliban vor fast 20 Jahren ausgerufenen Islamischen Emirats Afghanistan vor.
Akhundzada fungierte bislang als oberster Richter der Taliban. Er ist kein erfahrener Kämpfer; während des Kampfs gegen die Sowjetunion in Afghanistan in den achtziger Jahren blieb er in Pakistan und soll dort ein Netz von Religionsschulen in der Provinz Belutschistan aufgebaut haben. Zur Zeit der Taliban-Herrschaft in Kabul von 1996 bis 2001 hat er eine Reihe wichtiger Fatwas erlassen und seinen Ruf als einflussreicher Sharia-Richter begründet. Im erneuten Exil seit Ende 2001 gelang es ihm als Mitglied der sogenannten Quetta-Shura, interne Streitigkeiten zu schlichten. Ideologisch gilt er als Hardliner, aber seine neutrale Verhandlungsposition als Angehöriger eines kleineren Paschtunen-Familienverbands aus der Region Kandahar, aus der auch seine Vorgänger stammten, könnten ihm helfen, die in den vergangenen Monaten angewachsenen Spannungen innerhalb der Taliban-Bewegung abzubauen.
Am 21. Mai war der bisherige Taliban-Anführer Mullah Muhammad Akhtar Mansour durch einen Raketenangriff einer Drohne des US-Militärs getötet worden. Bislang hatten die afghanischen Taliban unter einer Art informellen Schutzes durch Pakistan gestanden. Insbesondere das pakistanische Militär betrachtet sie als Instrument zur Durchsetzung strategischer Interessen im Nachbarland. Allerdings hatten die Taliban nach den von Pakistan und der VR China initiierten Friedensgesprächen im vergangenen Jahr weitere Verhandlungen mit Vertretern der Regierung in Kabul verweigert. Vorausgegangen war die Wahl Mullah Mansours im August vorigen Jahres, als der afghanische Geheimdienst NDS Beweise für den Tod des langjährigen Taliban-Anführers Mullah Omar veröffentlichte. Aus Angst vor internen Rangfolgestreitigkeiten hatten die Taliban Omars Tod zwei Jahre lang verschwiegen, während Mansour sie bereits insgeheim führte. Nachdem sich einige Fraktionen abgespaltet hatten, weil Mansour eigene Clanmitglieder protegierte, setzte dieser auf militärische Eskalation und die unnachgiebige Bekämpfung Abtrünniger.
Im vergangenen Herbst errangen die Taliban erhebliche militärische Erfolge und konnten die nordafghanische Provinzhauptstadt Kunduz kurzzeitig einnehmen. Allerdings bewiesen sich seither die afghanische Armee und Sicherheitsdienste, am Boden und aus der Luft unterstützt durch ausländische Militärs, schlagkräftiger als nach dem Ende der Nato-geführten Isaf-Mission zum Jahreswechsel 2015 befürchtet worden war. Die im April begonnene Frühjahrsoffensive der Taliban konzentriert sich deshalb auf Guerillataktik und Anschläge. Die Taliban müssen sich in den umkämpften Distrikten mit einer Pattsituation und der Schattenherrschaft durch ihre örtlichen Kommandeure begnügen. Gleichwohl ereigneten sich am 19. April zwei Anschläge in Kabul mit 71 Toten und rund 370 Verletzten, zu denen sich die Taliban bekannten. Am 10. Mai verloren sie ein wichtiges Faustpfand, als nach dreijähriger Geiselhaft Ali Haider Gilani, Sohn des ehemaligen pakistanischen Premierministers Yousaf Reza Gilani, bei einer gemeinsamen Kommandoaktion von afghanischen Soldaten und US-Spezial­einheiten in der Stadt Ghazni befreit wurde.
Elf Tage später ereignete sich der Raketenangriff auf Mullah Mansour, der ihn und seinen Fahrer auf einer Überlandstraße in der Provinz Belutschistan auf dem Weg in die pakistanische Großstadt Quetta tötete. Zum ersten Mal töteten die USA einen ranghohen afghanischen Taliban in Pakistan, sogar deren Anführer, und setzten sich gleichzeitig über den inoffiziell geduldeten Einsatzbereich ihrer Drohnen hinweg, die bislang nur in den sogenannten Stammesgebieten im mittleren Bereich des pakistanisch-afghanischen Grenzgebiets angreifen hatten dürfen.
Der Einsatz erfolgte – wie bereits die Tötung Ussama bin Ladens vor fünf Jahren in der pakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad – auf direkte Anordnung des US-Präsidenten Barack Obama. Er wurde diesmal ebenfalls durch das Joint Special Operations Command des US-Militärs ausgeführt und Obama bezeichnete ihn danach als »Meilenstein« auf dem Weg zum Frieden in Afghanistan.
Die Kritik fiel gemäßigt aus; der pakistanische Armeechef Raheel Sharif teilte dem US-Botschafter mit, er sei äußerst besorgt über die Verletzung pakistanischer Souveränität. Innenminister Chaudhry Nisar Ali Khan musste jedoch einräumen, dass der beim Autowrack gefundene pakistanische Pass und der elektronische Ausweis, beide ausgestellt auf einen Muhammad Wali, der zudem in den vergangenen Jahren 19 Mal von Pakistan nach Dubai und zwei Mal in den Iran gereist war, echt seien. Khan gab zu, dass er seit vergangenem Jahr schon darüber informiert war, dass ein Afghane diese Papiere benutze. Warum die Papiere trotz seiner Anweisung weiterhin genutzt werden konnten, könne er sich nur mit Korruption erklären.
Wahrscheinlicher dürfte indes sein, dass Teile des mächtigen pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI Mansour deckten. Allerdings soll sich im Laufe der Zeit das Verhältnis abgekühlt haben, da Mansour sich resistent gegen Einflussnahme zeigte. Dass er es vorzog, inkognito in den Iran zu reisen, dessen Regime den Taliban nicht wohlgesonnen ist, um sich angeblich dort Chemotherapien zu unterziehen, statt sich in Pakistan behandeln zu lassen, heizt die Gerüchte bis hin zur Vermutung einer gezielten Vergiftung mit krebserregenden Substanzen an.
Tatsächlich hatten die USA in den vergangenen Wochen das pakistanische Militär durch die Streichung von Finanzierungshilfen und die Bindung von Militärhilfe an konkrete Forderungen unter Druck gesetzt. Der New York Times zufolge hatte man Pakistan bereits vor Wochen mitgeteilt, dass Mullah Mansour nun ein Ziel sei, woraufhin die Regierung bei generellen Informationen kooperiert hätte. Zur Verfolgung der Reise Mansours hätten die USA jedoch eigene Quellen und abgefangene Kommunikation der Taliban genutzt.
Die Taliban-Führung ist von einer Mitschuld der pakistanischen Regierung an der Tötung Mansours überzeugt, zukünftige Kooperation erscheint somit unwahrscheinlich. Während Mullah Akhundzada sich als Theoretiker auf die Ideologie und den Zusammenhalt konzentrieren dürfte, repräsentieren seine zwei Stellvertreter die stärksten Taliban-Gruppen aus dem Süden und Osten des Landes. Dass Sirajuddin Haqqani, dem ersten Stellvertreter, gute Kontakte zum ISI nachgesagt werden, zeigt eine gewisse Kontinuität. Da gerade dessen Organisation, das sogenannte Haqqani-Netzwerk, für die meisten Anschläge in Kabul verantwortlich ist, ist zweifelhaft, dass die Tötung Mansours Afghanistan dem Frieden näher gebracht hat.