Heimerziehung in der DDR

Zuführungszelle, Dunkelzelle, Fuchsbau

Die Entschädigungszahlung an ehemalige Heimkinder aus der DDR verläuft zäh. Welcher Methoden sich die realsozialistische Pädagogik bediente, um Heranwachsende zu »sozialistischen Persönlich­keiten« zu erziehen, zeigt unter anderem die Gedenkstätte »Geschlossener Jugendwerkhof Torgau«.

»Ich will gar kein Geld. Ich habe davon im Radio gehört und will einfach in die Statistik rein. Ich will, dass aufgerollt wird, was da gelaufen ist. Aber dieser Fonds kommt mir sehr merkwürdig vor, wie eine Hauruckaktion.« Anke Fleckenstein wartet seit fast zwei Jahren auf Nachricht von der Beratungsstelle in Leipzig, in der sie im Sommer 2014 ihren Antrag auf Unterstützung durch den Fonds »Heimerziehung in der DDR« abgegeben hat. »Vielleicht habe ich irgendwelche Formalitäten vergessen«, sagt sie. Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, hat sie häufig.
40 Millionen Euro stellte der Fonds anfänglich für Menschen bereit, die in Heimen in der DDR Drill, drakonische Bestrafung sowie andere Formen von Gewalt und Missbrauch erlitten hatten. Der Bedarf war groß und die zuständigen Stellen zeigten sich schnell überfordert. Da rasch auch das Geld auszugehen drohte, entschied das zuständige Bundesfamilienministerium, das Fondsvolumen auf bis zu 364 Millionen Euro zu erhöhen und zugleich einen Stichtag für die Antragstellung festzulegen. Betroffene konnten sich nur noch bis zum 30. September 2014 an den Fonds wenden. Die Bearbeitung der fristgerecht eingegangenen Anträge läuft noch bis zum 31. Dezember 2018. Als Fleckenstein ihren Antrag abgab, hatte sie sofort kein gutes Gefühl. »Die Frau dort war völlig überfordert, stöhnte und hat mich kaum angeguckt. Da lagen drei oder vier fette Ordner auf ihrem Schreibtisch und sie hat zu mir gesagt: ›Legen Sie es da drauf. Das sind alle Anträge nur aus dem Monat Juni. Es meldet sich dann jemand bei Ihnen.‹ Aber nichts geschah bisher.«
Fleckenstein gehört zu den etwa 27 500 Menschen, die den Stichtag 30. September 2014 eingehalten haben. Das sind nicht einmal sechs Prozent der etwa 500 000 Heimkinder der DDR. Viele haben vielleicht nicht von dem Fonds erfahren, scheuen vor den bürokratischen Hürden zurück oder wollen nicht mehr an ihre Zeit im Heim erinnert werden. Auch nicht alle Heimkinder in der DDR haben staatliches Unrecht erlitten. Bei den etwa 135 000 Kindern und Jugendlichen, die in den Spezialheimen und ­Jugendwerkhöfen zur »Umerziehung« untergebracht waren, ist jedoch in jedem Fall davon auszugehen.
Auf einem Wandbild sind fünf Kinder zu sehen, die Hand in Hand über eine Blumenwiese rennen. Auf dem Bild steht: »Den Kindern gehört die ganze Liebe unseres Volkes und die besondere Fürsorge unserer Regierung!« Aus dem Hintergrund dringt alle paar Sekunden der Klang einer Eisentür, die zugeschlagen wird. Beides gehört zu einer Videoinstallation der aktuellen Ausstellung der Gedenkstätte »Geschlossener Jugendwerkhof Torgau«. Die Aufschrift des Bildes klingt wie eine Drohung. Und tatsächlich war das Haus in der nordsächsischen Kleinstadt die Endstation im DDR-Heimsystem. Hierhin kamen Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, bei denen die »Umerziehung« in den Spezialheimen und offenen Jugendwerkhöfen zu wenig Wirkung gezeigt hatte.
Nachdem sie oft stundenlang mit dem Gesicht zur Wand im Flur gestanden und dann drei bis zwölf Tage in der »Zuführungszelle« im Einzelarrest verbracht hatten, bot sich den Neuzugängen in Torgau folgendes Bild: Mädchen und Jungen mit kurzgeschorenen Haaren und in uniformer Anstaltskleidung durften sich den ganzen Tag nur im Laufschritt bewegen. Jegliche private Habe war ihnen verboten. Wenn sie ausnahmsweise im Gruppenraum fernsehen durften, dann bestand das Programm nur aus der »Aktuellen Kamera«, der »Tagesschau der DDR«.
Das Heimsystem war gegliedert in Heime für »Normalerziehbare« und Spezialheime für »Schwererziehbare«, zur zweiten Kategorie gehörten auch die insgesamt 29 Jugendwerkhöfe. Mit einem System aus Drill und Strafen sollte bei den Kindern und Jugendlichen »die Erziehungsbereitschaft hergestellt« werden, wie es offiziell hieß. Dazu sollte der persönliche Wille der jungen Insassen gebrochen werden – ein Ziel, das in Torgau am entschlossensten verfolgt wurde. Nach der Auslöschung des individuellen Charakters sollte eine Rohmasse Mensch übrig bleiben, aus der dann die »sozialistische Persönlichkeit«, der »neue Mensch« geformt werden konnte.
In Torgau gab es Strafen, die diesem Zweck dienten. »Es wurde sehr viel mit Einzelarrest bestraft und als verschärfte Form gab es den Dunkelarrest«, sagt Sylvia Rodriguez von der Gedenkstätte Torgau. In den Dunkelzellen war eine Pritsche ohne Matratze und Kissen, lediglich zwei Decken lagen bereit. Die Pritsche wurde tagsüber hochgeklappt, damit der Insasse sich nicht hinlegen konnte. Er oder sie saß den ganzen Tag auf einem Hocker im Dunkeln – neben einem Eimer für die Notdurft das einzige, was sich in der Zelle befand. Auch in den »Fuchsbau« nebenan, einen dunklen Verschlag mit nur einem Meter Raumhöhe, wurden Jugendliche gesperrt, stunden-, manchmal sogar tagelang. Nicht nur in Torgau wurden systematisch Methoden angewandt, die den Tatbestand der Folter erfüllten. Auch in anderen Heimen und Jugendwerkhöfen gab es Prügel, Arrest und Essensentzug oder dessen Gegenteil: unter Zwang umso mehr von dem zu essen, was nicht schmeckte – bis hin zum eigenen Erbrochenen.
Dass Informationen über diese Quälerei erst 20 Jahre nach dem Ende der DDR an die Öffentlichkeit kamen, hat viele Gründe. Karsten Laudien, Ethikprofessor an der Evangelischen Hochschule Berlin und Mitautor des Buchs »Einführung. Heimerziehung der DDR« nennt einen: »Viele im politisch links geprägten sozialen Bereich der alten Bundesrepublik dachten lange, die DDR sei das bessere Deutschland gewesen. Und so bestritten sie auch, dass es ein solches Unrecht in den DDR-Heimen gegeben haben konnte.«
Mit der »Heimkampagne« kämpfte die Außerparlamentarische Opposition (APO) in Westdeutschland seit Ende der sechziger Jahre gegen die Methoden physischer und psychischer Gewalt in den Heimen der Bundesrepublik, die zumeist unter kirchlicher Trägerschaft standen. Eingebettet war diese Kampa­gne in den Kampf der Studentenbewegung gegen bundesdeutsche Altnazis und das kapitalistische Establishment. Viele Linke im Westen sahen in der ­Sowjetunion und auch in der DDR lange Verbündete in diesem Kampf – wohl gerade, weil sie tatsächlich nicht viel von den Verhältnissen in diesen Ländern sahen. Denn während die »Heimkampagne« im Westen allmählich zu einer Veränderung der menschenunwürdigen Zustände führte, gab es in der Heimerziehung der DDR keine pädagogische Wende. Eisern wurde hier die Kollektiv­erziehung, geprägt durch den sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko, bis zum Ende beibehalten.
Als 2006 mit dem Erscheinen des Buches »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik« des Journalisten Peter Wensierski die öffentliche Aufarbeitung endlich einsetzte, gab es im Westen bereits Gruppen, die sich für die Rechte der ehemaligen Heimkinder einsetzten. Im Gegensatz dazu waren ehemalige Heimkinder der DDR nicht organisiert und hatten keinerlei Lobby. Zudem sprachen ihnen die Fürsprecher ihrer westlichen Leidensgenossen aus ideologischen Gründen auch noch den Opferstatus ab. Es herrschte ein Schweigen, das auch die DDR-Behörden so vorgesehen hatten: Bei ihrer Entlassung mussten die Heimkinder in Torgau eine Schweigeverpflichtung über ihre Zeit dort unterschreiben.
Der »Runde Tisch Heimerziehung« unter Vorsitz der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Antje Vollmer (Grüne), die sich in den Siebzigern in West-Berlin in der »Liga gegen den Imperialismus«, einer Vorfeldorganisation der KPD/AO, engagiert hatte, wurde im Jahr 2009 auch nur für das Heimsystem der alten Bundesrepublik eingerichtet, die DDR stand nicht zur Debatte. »Aber als die öffentliche Empörung über die Zustände auch in den Heimen der DDR losging, wurde klar, dass man sich als Politiker mit solchen Themen profilieren kann«, konstatiert Laudien nüchtern.
Angesichts solcher wenig schmeichelhaften Urteile schürzt Silvana Hilliger in ihrem Büro in Potsdam die Lippen. Sie arbeitet hier für Ulrike Poppe, die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der Kommunistischen Diktatur in Brandenburg. Hilliger gehört zu denen, die den Heimerziehungsfonds für das Bundesland aufgebaut haben. Zu dem umstrittenen Stichtag sagt sie freimütig: »Der soll insbesondere die Zielgruppe eingrenzen. Wenn alle 500 000 im Osten und 800 000 im Westen gekommen wären, bei einem Anspruch von jeweils 10 000 Euro – das kann man sich ja ausrechnen. Das wäre der Politik möglicherweise zu teuer gewesen. Aber ich glaube auch, dass was dran ist an der offiziellen Begründung, dass nicht in jedem Fall staatliches Unrecht passiert ist.«
Selbst wer den Stichtag eingehalten hatte, war längst nicht am Ziel. In einem Beratungsgespräch mussten ehemalige Heimkinder Nachweise ihres Leids erbringen und die Schikanen und Misshandlungen der Vergangenheit wieder aus ihrem Gedächtnis hervorholen. Den Betroffenen saßen dabei aber meistens keine Psychologen gegenüber, sondern häufig ungeschulte Behördenmitarbeiter. Viele Antragsteller beklagten eine wenig vertrauenerweckende Gesprächssituation, für viele war sie sogar unzumutbar. Andere wiederum gaben an, es sei zwar schwer gewesen, über das Geschehene zu reden, es habe sie aber gestärkt. Die an Sachleistungen wie beispielsweise einen Gebrauchtwagen oder eine Wohnungsrenovierung gebundenen 10 000 Euro, die Antragsteller bei nachweislicher Glaubwürdigkeit bekommen, sind für viele ein angenehmer Nebeneffekt. Was die Betroffenen aber vor allem wollen, ist die Anerkennung des Leids, das ihnen zugefügt wurde. Und auch, dass damit die Stigmatisierung als Heimkind endlich aufhört.
Die kürzlich verstorbene Margot Honecker nannte die Opfer der Jugendwerkhöfe noch 2012 »bezahlte Banditen«. Aus dem DDR-Volksbildungsministerium, dem sie von 1963 bis 1989 vorstand – womit sie die oberste Zuständige für die Jugendwerkhöfe war –, erging im November 1989 eine dringende Anweisung nach Torgau, den Jugendwerkhof sofort zu schließen. Schnell wurden noch die Gitter vor den Fenstern und in den Gängen entfernt und dann stahl sich das Personal davon. Die Beteiligten wussten also, dass diese »Erziehung« nicht zu verantworten war, nicht einmal, wenn man sie als Jugendstrafvollzug deklariert hätte.
Dennoch erzählt Karsten Laudien, der für das von ihm gegründete Deutsche Institut für Heimerziehungsforschung (DIH) viele Interviews mit ehemaligen Heimkindern führt: »Einige Heimkinder unterstellen, dass es auch erfundene Geschichten gibt. Sie beanspruchen den ›Opferstatus‹ für sich selbst.« Doch auch diesen Opferstatus sieht Laudien kritisch und dass dieser durch die Konstruktion des Fonds nahegelegt werde. »Die Betroffenen werden dadurch, dass sie finanzielle Mittel erhalten, wenn sie ihre Leidensgeschichte erzählen, in ihrem Opferstatus festgeschrieben und nicht motiviert, aus dieser Rolle auszubrechen und in die Zukunft zu schauen.« Deshalb erstellt er zurzeit mit dem DIH eine Studie, die Möglichkeiten untersucht, die Opferrolle aufzugeben.
Doch Laudien hat auch nicht erlitten, was beispielsweise Alexander Müller durchgemacht hat. Eigentlich ein Typ wie ein Bär, den scheinbar nichts so leicht umwerfen kann. Er tritt auch selbstbewusst in verschiedenen Dokumentarfilmen zum Thema auf. Er sagt dann in brummigem Sächsisch, damals habe er Dreck fressen müssen, doch heute lasse er sich nichts mehr gefallen. Sechs Monate lang war er in den Achtzigern in Torgau.
In dem Dokumentarfilm »Schutzlos ausgeliefert. DDR-Heimkinder erzählen« spricht er einen Zusammenhang an, der in der öffentlichen Debatte bisher nur am Rande vorkam. Nach der Arbeit gefragt, die alle Insassen der Jugendwerkhöfe in den verschiedenen Produktionszweigen leisten mussten, erzählt er eine für ihn einschneidende Episode:
»Am Anfang war mir gar nicht bewusst, für wen wir da arbeiten. Doch irgendwann sagte einer der Arbeitserzieher zu mir: ›Du bist doch so für die BRD, oder? Was glaubst du denn, für wen du hier arbeitest? AEG, Rowenta, Neckermann und so weiter. Glaubst du, die wissen nicht, wo das hergestellt wird? Denkst du, die scheren sich um dich?‹ Und da ist mir mit zarten 15 Jahren bewusst geworden, dass mein Heil auch nicht in der BRD liegt.«
Eine andere Betroffene erzählt, wie sie während ihrer Zeit in Torgau Zwieback für die Firma Brandt verpackte. Es geht also auch um Kinderarbeit im Billig- bis Nulllohnland DDR. Beim Devisenhandel gab es keine Mauer, und auch auf der Westseite interessierte es niemanden, was in Torgau geschah.
In Leipzig muss Anke Fleckenstein nur noch schnell ihre beiden kleinen Kinder »ruhigstellen«, wie sie es formuliert. Energisch, fast hektisch läuft sie durch die Wohnung. Sie hat sich entschlossen, die Sache mit dem Fonds noch einmal anzugehen. »Auch wenn es belastend ist, diese Erinnerungen immer wieder hochzuholen. Und diese Bürokratie! Das Kramen nach Formularen und Briefen von damals«, erzählt sie. 1973 versuchten ihre Mutter und deren Schwester zusammen mit ihren Männern, Ankes Großmutter, Anke und ihrem Cousin aus der DDR zu fliehen. Sie wurden erwischt, die Erwachsenen kamen ins Gefängnis und die Kinder ins Heim. Als im Januar ihre Tante starb, sagte Fleckensteins Mutter: »Jetzt kann ich mit niemandem mehr über die Zeit in Hoheneck reden.« Im dortigen Frauengefängnis waren sie und ihre bereits 1998 verstorbene Mutter eingesperrt. Die Schwester war schon lange physisch und psychisch krank, vielleicht seit der Inhaftierung damals. Fleckenstein sagt aber auch: »Es ging immer nur um das Leid der Erwachsenen. Nie hat mich jemand ­gefragt, was ich durch die Trennung von meinen Eltern und im Heim erlitten habe.«
Aus dem Nebenzimmer klingt jetzt leise »Zwei mal drei macht vier/widewidewitt und drei macht neune/ich mach mir die Welt/widewide wie sie mir gefällt«. Die »Ruhigstellung« der Kinder per DVD ist angelaufen. Fleckenstein macht sich auf den Weg zur Beratungsstelle, wo sie vor fast zwei Jahren ihren Antrag abgegeben hat. Wenig später wundert sie sich: Das Schild an dem Gebäude ist nicht mehr da. Sie klingelt und ein Mitarbeiter einer Immobilienfirma, die dort mittlerweile ihre Büros hat, sagt ihr, die Beratungsstelle sei umgezogen. Wohin, wisse er nicht.