Verschwörungstheorien und Nationalismus

Handeln wollen, verstehen müssen

Der Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Nationalismus wird von Linken viel zu selten thematisiert. Dabei wäre es hilfreich, um die derzeitige Konjunktur des Verschwörungsdenkens zu begreifen.

Zur nationalistischen Mobilisierung der vergangenen Jahren gehört die offene bis implizite Unterstellung von insgeheim steuernder Verschwörung aus dem Ausland und einer teils unbewussten, teils bewussten Zuarbeit aus dem Inneren der Nation. Linke Reaktionen darauf folgen dem Impuls, diese Zuspitzungen als dumm und verrückt abzuwerten und zu verspotten. Was der »Aluhut« schützen soll, wogegen sich also fast immer verschworen wird und wozu diese Annahme ermächtigt, spielt nur am Rande eine Rolle. Dass es Ideologie (und Religion) gerade ausmacht, auf bestimmte, wirksame Weise falsch zu sein, um das falsche Ganze retten und verteidigen zu können, scheint, wenn es je gewusst wurde, längst wieder vergessen. Die linksradikalen Wortmeldungen zum Thema unterscheiden sich bis auf wenige löbliche Ausnahmen deswegen kaum von den liberalen oder sozialdemokratischen, wie sie bei »Extra3« oder der »Heute show« zu sehen sind, weil sich auch die zugrundeliegenden Analysen, sofern es im Rahmen des Universitätsbetriebs gelegentlich welche gibt, sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden.
Als hätte es Ideologie- und Herrschaftskritik nie gegeben, scheinen zu viel Linke Ideologie nicht als notwendig falsches Bewusstsein jedes Herrschaftssystems zu verstehen und behandeln sie als Ursache statt als Produkt gesellschaftlicher Zustände. Als wäre Ideologie nur in bestimmten politischen Milieus anzutreffen, gibt es Veranstaltungen über »rechte Verschwörungstheorien«, an denen dann zur Besonderheit erhoben wird, was zu allen Formen von Ideologie gehört: die Einteilung der Welt in Gut gegen Böse; die identitätsstiftende Funktion; die Auslagerung der Widersprüche des eigenen Kollektivs; die Immunisierung gegen Kritik. Filigran wird dabei oft um die wichtigste und am weitesten verbreitete Ideologie kapitalistischer Gesellschaften herumgetanzt, zu deren Abdichtung, Ausbau und Verschärfung der Verschwörungsdiskurs überwiegend benutzt wird: den Nationalismus.
Dass es von diesem meist keinen Begriff gibt, zeigt die politische Praxis der vergangenen Jahre leider sehr deutlich. Während man sich auf die Verrückten am gesellschaftlichen Rand gestürzt hat, wurde die nationalistische Mainstream-Dauerdröhnung gegen »Heuschrecken« und »intrigantes«, »faules« Ausland viel weniger thematisiert. Vor allem blieb dieser Rand meist fein säuberlich vom Mainstream getrennt oder wurde, im Sinne des Mainstream-Nationalismus, zum Ergebnis russischer Wühlarbeit reduziert. Während die offen nationalistischen Bewegungen als rechts oder nazistisch »entlarvt« oder ihr Nationalismus beim nationalistischen Publikum als Nationalismus denunziert wurde, blieb dessen Kern, die Volksgemeinschaft gegen den Klassenkampf, fast immer außen vor. Kam es zu Arbeitskämpfen, selbst so enormen Ausmaßes wie beim Bahnstreik, stellte sich alsbald die Frage: Wo war eigentlich die Linke?
Daher noch mal von vorn: Nationalismus immunisiert kapitalistische Gesellschaften gegen den Klassenkampf von unten und war historisch immer gegen die Selbstorganisation der arbeitenden Klasse und ihre Versuche gerichtet, die Produktionsmittel zu übernehmen. Dafür ist es nachrangig, ob sich der Nationalismus als links oder rechts etikettiert, beziehungsweise etikettiert wird; ob er sich überhaupt selbst als nationalistisch versteht; ob er eine bürgerliche oder proletarische Nation im Sinn hat; ob er sich auf diesen, einen anderen, einen vergangenen oder zukünftigen Staat bezieht. Ebenso, zu welchem Anteil Nationalismus aus Manipulation, Fetischdenken oder direkt aus der Konkurrenz der nicht als Klasse kämpfenden Arbeitenden untereinander, also aus der erstrebten Aufwertung der jeweils eigenen und der Abwertung der jeweils anderen Ware Arbeitskraft, erwächst. Zum Nationalismus gehört stets eine Bevölkerungspolitik, die sich in eine Geschlechterpolitik übersetzt und die auf diesem Gebiet, wie es auch in anderen Feldern geschieht, den Widerspruch zwischen demonstrativer Liberalität und immer weiter ausgebauter sozialer Kontrolle entfaltet. Auch Rassismus und Antisemitismus treten seit der kapitalistischen Moderne kaum noch anders denn als Verschärfungen des Nationalismus auf, der aus ihnen die erweiterte Legitimation seiner verehrten und geschützten, fleißigen und ehrlichen Arbeit und seines Geschäfts bezieht wie auch das Mandat zum Vorgehen gegen die als faul und kriminell konstruierten Anderen.
Die Annahme und Unterstellung von Verschwörungen dient all diesen Erzählungen als Kitt für auftretende Risse im Weltbild. Die geheime Weltregierung, die – anders als reale Verschwörungen – alles weiß und alles kann, der alles zuzutrauen ist und die auch über wunderbare Fähigkeiten und Mittel verfügt, fungiert als Joker, der die im Kern ja immer falschen ideologischen Erzählungen zusammenzuhalten vermag. Entsprechend haben Konjunkturen des Verschwörungsdenkens, soweit sie sich überhaupt bestimmen lassen, wenig mit »dem Internet« oder anderen gern genannten Umständen zu tun, sondern viel mehr damit, ob die Alltagsideologie noch funktioniert oder ob sie zur Rettung der Nation und der eigenen Stellung in ihr verschärft und erweitert werden muss.
Aus der Zusammenschau diverser umlaufender Verschwörungserzählungen in seiner Zeitschrift Compact munitionierte sich der frisch entfachte Nationalismus Jürgen Elsässers neu. Die linken running gags über einen staatlich gesteuerten und geförderten »Antifa e.V.« und ähnliche Strukturen halfen nicht nur Björn Höcke, seinen Nationalismus als authentische »Stimme des Volkes« auszuweisen, gegen die nur angeblich bezahlte Claqueure protestieren. Mit der Rede schließlich von einer »BRD GmbH« und einem ostküstenhörigen »Merkel-Regime« konnte gleich die ganze Nation systematisch von ihrer gegenwärtigen Verfallsform getrennt werden.
Überall steht die Nation im Zentrum, überall machen sich die nationalistisch Bewegten zu deren entschlossensten Vorkämpfern, überall versichern sich Kleinkapital, Politpublizistik, Arbeitende und Arbeitslose, die sich allesamt vom Status- und Einkommensverlust bedroht sehen, ihrer Gemeinsamkeit gegen einen äußeren Feind und dessen hiesige Hilfstruppen und wollen sich – mit immer besseren Erfolgsaussichten für einen immer größeren Teil von ihnen – zum gemeinsamen Vorteil gegen diese Bedrohung zusammentun.
Der große Teil der Linken, der von Klassen schon lange nichts mehr wissen wollte, hat dazu wenig zu sagen – wer erst bei AfD-Wahlerfolgen bemängelt, dass Arbeitende sich gegen ihre Interessen entscheiden, macht sich angesichts der übrigen parlamentarischen Realität nur noch lächerlich. Wer Nationalismus erst bei der AfD als gefährliche Denkweise entdeckt, verschleiert den ganz normalen Nationalismus fast der ganzen Gesellschaft. Und all jene Linke, die statt von Herrschaft nur mehr von Macht oder vom »automatischen Subjekt« sprechen, können angesichts von um sich greifenden Phantasien einer schrankenloseren und weniger skrupelbehafteten Herrschaftsausübung nicht mehr gesellschaftlich, nicht mehr sozialistisch und schon gar nicht klassenkämpferisch, mit der Überwindung von Binnenkonkurrenz in der Klasse, antworten, sondern meist nur noch moralisch und psychiatrisch.
Der ideologische Einsatz von Verschwörungserzählungen dient Menschen im Rahmen von nationalistischen Bewegungen oder staatlichen Kampagnen dazu, ihr eigenes Weltbild zu kitten und sich ganz real Einfluss und Einkommen zu sichern oder zu verschaffen. Der Vorteil, den diejenigen haben, die das tun: Sie brauchen es nicht zu verstehen, um damit erfolgreich zu sein. Der Nachteil derjenigen, die dem entgegenwirken wollen: Sie müssten es verstehen, um es zu vereiteln.