Die Armenien-Resolution des Bundestags

Mein Genozid, dein Genozid

Der Bundestag hat mit einer Resolution den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich anerkannt. Die Abstimmung zeigte, wie viel Druck die Türkei auf die Parlamentarier ausgeübt hatte.

Die Reaktion war absehbar. Nur wenige Stunden nachdem der Bundestag am Donnerstag voriger Woche fast einstimmig eine Resolution verabschiedete, die an den Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern und Angehörigen anderer christlicher Minderheiten (Assyrer, Aramäer, Pontosgriechen und Chaldäer) im Osmanischen Reich erinnert, rief die türkische Regierung ihren Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslıoğlu, nach Ankara zurück. Zu Beratungen, wie Ministerpräsident Binali Yıldırım ankündigte. Zudem äußerten sich mehrere führende Mitglieder der Regierungspartei AKP zu dem Beschluss. Präsident Recep Tayip Erdo­ğan sagte, die Resolution werde die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei »ernsthaft beeinflussen«. Noch schärfer reagierte Justizminister Bekir Bozdağ. »Erst verbrennst du die Juden im Ofen, dann stehst du auf und klagst das türkische Volk mit Genozidverleumdung an«, sagte der AKP-Politiker. Den Deutschen empfahl er: »Kümmere dich um deine eigene Geschichte.«
Genaugenommen haben die Bundestagsabgeordneten dies getan. Als Verbündeter des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg war Deutschland in den Völkermord verwickelt und unternahm kaum etwas, um den Massakern Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil, Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schrieb dem damaligen deutschen Botschafter in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.« Soldaten des Kaiserreichs dienten während des Kriegs im Osmanischen Heer und unterstützten mitunter die Deportationen. Zudem wurden beim Bau der Bagdadbahn, an der deutsche Unternehmen beteiligt waren, Tausende armenische Zwangsarbeiter eingesetzt. Deutsche Bank und Dresdner Bank weigern sich bis heute, die Nachfahren der Opfer zu entschädigen.
All das focht eine Reihe von türkischen, meist AKP-nahen Verbänden in Deutschland nicht an, vor der Abstimmung eine Gegenkampagne zu initiieren. In Berlin demonstrierten vor dem Brandenburger Tor am Tag vor der Abstimmung mindestens 1 500 Men­schen unter dem Motto »Parlamente sind keine Gerichte« gegen die Anerkennung des Völkermords. Mehr als 500 Organisationen in Deutschland hatten unter Federführung der Türkischen Gemeinde Berlin ein Schrei­ben entworfen, das Türken an Politiker versenden sollten. Die Leugnung des Genozids überbrückte anscheinend alle ideologischen Differenzen. Nicht nur die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), ein Ableger der AKP, und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) gehörten dazu. Auch die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, die Faschisten der Grauen Wölfe und islamistische Gruppen beteiligten sich.
Abgeordnete türkischer Herkunft wie der Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, wurden in Zuschriften als Verräter verunglimpft und mit dem Tod bedroht. Bei Redaktionsschluss erwog das Bundeskriminalamt, dem Stuttgarter Politiker individuellen Personenschutz zu stellen. Özdemirs Büroleiter Marc Berthold sagte, so viele Todesdrohungen wie im Zuge dieses Beschlusses habe man noch nie erlebt. Einem Bericht der Welt zufolge schob Erdoğan gleich noch hinterher, dass die Parlamentarier ohnehin keine richtigen Türken seien und »ihr Blut einem Labortest« unterzogen werden solle.
Die Resolution des Bundestags offenbarte einmal mehr die komplizierten Beziehungen Deutschlands zur Türkei. Würde die Anerkennung des Genozids die türkische Regierung veranlassen, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen? Wie viele Abgeordnete würden der Abstimmung fernbleiben? Bereits im vergangenen Jahr sprachen in einer Bundestagsdebatte zur Behandlung der armenischen Minderheit durch die Türkei die meisten Abgeordneten das Wort »Genozid« aus, zu einem Beschluss kam es allerdings nicht. Damals verzichtete man dem Vernehmen nach darauf, um die Verhandlungen mit der Türkei über die Eindämmung der Flüchtlingsbewegungen nicht zu beeinträchtigen.
Besonders auf Drängen Özdemirs arbeiteten Grüne, SPD und CDU/CSU jedoch einen fraktionsübergreifenden Antrag aus. Dieser wurde am Donnerstag voriger Woche schließlich im spärlich gefüllten Plenarsaal angenommen – ohne die Stimmen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihres Stellvertreters Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die allesamt wohl nicht ganz zufällig abwesend waren.
Die einzige Gegenstimme kam von der sächsischen CDU-Abgeordneten Bettina Kudla. Auf ihrer Homepage begründete sie dies damit, dass es nicht Aufgabe des Bundestags sei, historische Bewertungen von Ereignissen in anderen Staaten vorzunehmen. Auch seien die politischen und finanziellen Folgen des Beschlusses »nicht kalkulierbar«. Diese könnten sich durch »das Aufmachen von Wiedergutmachungsforderungen seitens Armenien ergeben«, schrieb Kudla und bezog sich damit wohl auch auf die Mitverantwortung des Deutschen Reiches und seines Rechtsnachfolgers, der Bundesrepu­blik.
Bemerkenswert in der Debatte war der Redebeitrag von Rolf Mützenich (SPD), der auf die UN-Völkermordkonvention von 1948 verwies. Der Jurist Raphael Lemkin, maßgeblicher Autor der Konvention, verfasste den Text vor allem unter dem Eindruck der Shoah, aber auch der Massaker im Osmanischen Reich. Der Vertrag gelte rückwirkend, auch wenn er 35 Jahre nach dem armenischen Völkermord in Kraft getreten ist, so Mützenich.
Die gegenteilige Auffassung, die von Genozidleugnern oft vertreten wird, machte sich die Bundesregierung allerdings selbst zu eigen – mit Bezug auf die systematischen Massaker durch die deutschen Kolonialtruppen an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 im heutigen Namibia (Jungle World 44/2015). Auf eine kleine Anfrage der Linkspartei vom August 2012, warum die Regierung die Kolonialverbrechen nicht als Völkermord benennt, hieß es damals in der Antwort: »Wenn der Begriff als völkerrechtlicher Terminus verwendet wird, also mit seinen juristischen Implikationen angesprochen ist, gilt, wie die Bundesregierung wiederholt ausgeführt hat, dass die Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht rückwirkend angewendet werden kann.«
Unter anderem Özdemir und Gregor Gysi (Linkspartei) forderten in ihren Reden bei der Armenien-Debatte die Bundesregierung dazu auf, den Genozid an den Herero und Nama anzuerkennen.
Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin verlor fast seine gesamte Familie in der Shoah. Lemkin entwickelte in den vierziger Jahren den Begriff Genozid. Er wollte damit alle Aspekte des gezielten Angriffs auf eine Bevölkerungsgruppe ausdrücken, was ein Begriff wie beispielsweise Massenmord seiner Auffassung nach nicht leistet.