Das Thema Migration bestimmt die Debatte über den "Brexit"

Britain for the British

Die Austrittsdebatte in Großbritannien hat sich zu einer Auseinander­setzung entwickelt, die vor allem von Ressentiments getragen wird. Das Thema Migration dominiert die Kampagne der Befürworter eines Austritts aus der EU.

Die Einwohner des nordirischen Städtchens Newry sind es gewohnt, Grenzen zu ignorieren. Viele von ihnen pendeln täglich auf der Autobahn, die Belfast mit Dublin verbindet, in die nur ein paar Kilometer entfernte Republik Irland. Der einzige Hinweis, dass sie dabei von einem Land in ein anderes fahren, sind ein paar Schilder: Auf der einen Seite wird in Kilometern gezählt, auf der anderen in Meilen.
Mit dem raschen Grenzübertritt könnte es jedoch bald vorbei sein, denn wenn die Befürworter eines britischen EU-Austritts das Referendum gewinnen sollten, wird aus einer kaum wahrnehmbaren eine sehr reale Grenze. Nordirland wäre dann nicht mehr Teil der Europäischen Union, was die engen wirtschaftlichen und sozialen Bindungen zwischen beiden Teilen der Insel beeinträchtigen würde.
Doch nicht nur Nordirland könnte erheblich leiden, auch Schottlands Zukunft müsste wohl neu verhandelt werden, warnte der britische Premierminister David Cameron vergangene Woche. Nach einem EU-Austritt sei eine weitere Abstimmung über den Verbleib Schottlands im Königreich wahrscheinlich.
Dass Cameron überhaupt von Schottland spricht, zeigt, wie nervös die Stimmung im Pro-EU-Lager mittlerweile ist. Ursprünglich wollte Cameron dieses Thema unbedingt vermeiden, um keine weitere Debatte zu eröffnen. Weil die Ausstiegsbefürworter in den Umfragen jedoch in den vergangenen Wochen deutlich zugelegt haben, greift er nun doch zu diesem Argument.
Dabei hat Cameron bereits alle möglichen Schreckensszenarien bemüht. Ein Austritt hätte katastrophale wirtschaftliche Folgen, erklärte er. Das Pfund und die Renten würden verfallen, Unternehmen die Insel verlassen, die Briten ihre Arbeitsplätze verlieren. Das Land werde in der politischen und ökonomischen Bedeutungslosigkeit versinken. Und nun droht der Verfall des Königreichs.
Cameron könne nur noch Panik schüren, kontern prominente Ausstiegsbefürworter wie Alan Sked, der Gründer der rechtspopulistische Partei Ukip. »Ich warte nur noch auf Warnungen vor Heuschreckenplagen oder dem Tod der Erstgeborenen, die uns bei einem ›Brexit‹ drohen würden«, lästerte er kürzlich über den konservativen Premier.
Im Gegensatz zu der Angstkampagne Camerons bemüht sich Sked, ein möglichst optimistisches Bild von der Zeit nach einem Austritt zu zeichnen. Die Wirtschaft werde sich bald erholen und die europäischen Industriekonzerne schnell einem Freihandelsabkommen zustimmen. Die Briten würden »sich nicht lange in die EU zurücksehnen, sondern diese unglückliche Zeit schnell vergessen«, gibt er sich überzeugt.
Ähnlich argumentieren auch bekannte Ausstiegsbefürworter wie der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson oder Justizminister Michael Glove. Ihrer Meinung nach diene die Europäische Union nur den Interessen von Banken, Konzernen und »unverdienten Reichen«. Diese Gruppen würden mit hohen Summen bei der Brüsseler Bürokratie Lobbyarbeit machen, um die Regeln zu ihren Gunsten zu beeinflussen. »Natürlich wollen diese Gruppen, dass wir in der EU bleiben«, meint Glove. Zugleich senke die unkontrollierte Migration nach Europa die Löhne in den schlechter bezahlten Berufsgruppen und treibe damit die soziale Ungleichheit weiter voran. Nach einem Austritt könne die Regierung hingegen wieder mehr Mittel für Gesundheit und öffentliche Dienste bereitstellen und somit gemäß nationalen Interessen investieren.
Glove bemüht damit das gleiche Stereotyp, das auch EU-Gegner wie der Front National (FN) in Frankreich oder die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wiederholen: Die Brüsseler Bürokratie sei ein Moloch, der von anonymen Interessensgruppen kontrolliert wird, die sich auf Kosten der Nationalstaaten bereichern wollen.
Dass sich nun ausgerechnet konservative Tories für soziale Gleichheit erwärmen und vor der Macht der Finanzindustrie warnen, wirkt grotesk. Schließlich sind es gerade die Epigonen von Margaret Thatcher, die vehement gegen Sozialstandards wettern, wie sie die EU vorschreibt.
Und auch die blühenden Landschaften, die die Ausstiegsbefürworter versprechen, wird es nicht geben. Wie wenig stichhaltig Gloves Argumente sind, hat dieser schon mehrfach selbst bewiesen. Bei der zweiten großen Fernseh­debatte Anfang Juni musste er bei der einfachen Frage passen, welcher Wirtschaftsverband eigentlich einen Austritt befürworte. Denn während keine dieser Organisationen Gloves »Leave«-Kampagne unterstützt, sprechen sich die Bank of England, alle Wirtschaftsverbände sowie Hunderte von Wirtschaftswissenschaftler dagegen aus. Unter anderem warnen auch Fachleute der OECD und des Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) vor einem Austritt Großbritanniens. »Die Auswirkungen wären ziemlich schlimm bis sehr, sehr schlimm«, sagte die IWF-Direktorin Christine Lagarde kürzlich.
Stattdessen benutzt Glove Zahlen, die er selbst nicht erklären kann. Angeblich würden wöchentlich 350 Mil­lionen Pfund an britischen Beiträgen nach Brüssel überwiesen – Geld, das Glove lieber für das nationale Gesundheitssystem NHS verwenden würde, wie er auch auf seinem Kampagnen-Bus großflächig plakatiert.
Glove hatte allerdings bei diesen Zahlen schlicht unterschlagen, dass Großbritannien im Gegenzug auch viel Geld aus Brüssel erhält, Briten-Rabatte und Rückzahlungen inklusive. Die konservative Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Sarah Wollaston, hatte deswegen vergangene Woche die »Leave«-Kampagne verlassen und sich deren Gegnern angeschlossen. »Die Zahlen sind einfach nicht wahr«, kommentierte sie ihren Entschluss. Sie könne nicht weiter eine Kampagne unterstützen, die mit offensichtlich falschen Angaben arbeite. Außerdem fokussiere sich die Kam­pagne auf das Thema Immigration, was sie »zunehmend ununterscheidbar von der Ukip« mache.
Tatsächlich dominiert die Debatte über Migration mittlerweile die gesamte »Leave«-Kampagne. Während viele Wähler nur schwer nachvollziehen können, welche wirtschaftliche Prognose nun richtig ist, sind die Fronten beim Thema Zuwanderung klarer.
Seit der EU-Osterweiterung sind rund zwei Millionen EU-Bürger ins Land gekommen. Schon fast sprichwörtlich sind die polnischen Klempner und Bauarbeiter, aber auch in den Krankenhäusern und Altersheimen geht fast nichts mehr ohne die osteuropäischen Arbeitskräfte. Mit Beginn der Wirtschaftskrise änderte sich die Stimmung. Nachdem bekannt geworden war, dass im vergangenen Jahr rund 330 000 Menschen mehr nach Großbritannien ein- als ausgewandert sind, wurde Cameron heftig kritisiert, denn dieser hatte zuletzt von einem Einwanderungssaldo von maximal 100 000 Personen gesprochen. Nun musste er zugeben, dass sich wegen der Freizügigkeit innerhalb der EU nicht genau bestimmen lasse, wie viele EU-Bürger auf die Inseln ziehen.
Für die »Leave«-Kampagne, die anschließend in den Umfragen deutlich zulegte, bedeutete diese Nachricht eine Steilvorlage. Bei einem Verbleib in der EU, warnt Johnson, werde sein Land womöglich »jedes Jahr um die Größe einer Stadt wie Newcastle anschwellen« und ein »unerbittliches« Bevölkerungswachstum verzeichnen. Nur die Abkoppelung von der EU könne Großbritannien vor einem schlimmen Schicksal bewahren und den Briten »die Kontrolle über ihr Land« zurückgeben. Vor allem türkische Migranten, suggeriert das Austrittslager, würden bald auf die Insel kommen. »Die Türkei (Bevölkerung 76 Millionen) ist im Begriff, sich der EU anzuschließen«, heißt es allerorten auf Plakaten der Ausstiegskampagne. Auf denselben Plakaten ist ein EU-Pass als offene Tür dargestellt. Und Nigel Farage, Vder orsitzende von Ukip, prophezeit sogar »Millionen Flüchtlinge« aus dem Nahen Osten und Nordafrika, sobald diesen von Deutschland oder anderen Nationen EU-Pässe ausgestellt würden.
Offenbar wollen viele Briten die Grenzen schließen, selbst wenn dies erhebliche Nachteile mit sich bringt und womöglich sogar das Vereinigte Königreich spaltet. Eine Einstellung, die sie mit vielen Europäern verbindet.