Irgendwas läuft falsch bei der Fußball-EM

Die EM und der Wahnsinn

Von wegen Party-Patriotismus – Europa macht ernst.

So ein 55-Zoll-Fernseher macht schon Laune. Die Glotze ist enorm groß und gerade Fußballspiele sehen darauf großartig aus. Und Filme. Und Serien. Und Wiederholungen von »Traumschiff«. Nie konnte man Walter Whites Nasenhaare besser sehen als mit so einem Fernseher auf Steroiden. Dermaßen ausgerüstet freute man sich auch richtig naiv-ehrlich auf die EM. Endlich Fußball auf einer Riesenglotze, dazu noch der geile Surround-Sound vom AV-Receiver und weit und breit keine Vuvuzela. Erinnert sich jemand daran? Vor sechs Jahren, die WM in Südafrika? Der eintönige Drone-Sound der Vuvuzelas, massenhaft gleichzeitig geblasen, sorgte für kollektive Ausbrüche von Hass auf die südafrikanische Fankultur. Zu Recht, auch wenn besonders schlaue Rechte jenen Menschen, die die Tröte nicht mochten, »Rassismus« anzudichten versuchten.
Franzosen, alte Eurozentriker, mögen auch keine Vuvuzelas. Die mögen politische Streiks und Croissants. Politische Streiks sind in Deutschland ebenso verboten wie gute Croissants, erstere explizit und letztere implizit, und wer Deutschland kennt, der weiß, warum. Deutschland ist ein Vollkornland mit Vollkornmentalität, hier ist man stolz darauf, wenig zu streiken, und wenn man Deutschen erzählt, im alten Rom sei das Vollkornbrot das Brot der Ärmsten gewesen, der Sklaven und Hungerleider, halten sie die reichen Römer für blöd, weil die sich ihre Mägen nicht mit Körnern verdarben. Deutsche halten überhaupt viele Nichtdeutsche für blöd. So gehen die Deutschen, die Deutschen gehen so. So gehen die Gauchos, die Gauchos gehen so. Die Verhöhnung der Argentinier durch die Helden der deutschen Fußballnation soll nie vergessen werden – dermaßen der Zugehörigkeit zum selben Sprachkreis geschämt wie bei der deutschen WM-Siegesfeier 2014 habe ich mich zuletzt nach der Lektüre von Augstein-Kommentaren zu Israel.
Aber neben all dem: Irgendetwas läuft doch total falsch bei dieser EM. Sieht das keiner? Der Party-Patriotismus der Deutschen (und anderer Nationen) ist längst einem heftigen Chauvinismus gewichen; die Fortschritte, die alle erreicht zu haben meinten, waren keine. Deutsche Fans hauen Fans aus anderen Ländern den Schädel ein, und sie tun das, obwohl die Cops angeblich genau Bescheid wissen über jeden Hool. Andere Länder behaupteten das auch und was kam heraus? Straßenschlachten wie in den achtziger Jahren zwischen den Fans verschiedener Nationalmannschaften. Die Regression war kein Zufall und kam nicht unerwartet. Die deutschen Behörden kannten die Risiken, haben aber einfach vergessen, per Datenweitergabe und durch eigene Aktivität die nationalistischen Schläger im Zaum zu halten. Und so konnte sich die ganze Welt erneut an fetzendepperten deutschen Fans »erfreuen«, die wie auf Bestellung auch den Hitlergruß zeigten.
Irgendetwas läuft falsch. Bei dieser EM und allgemein. Klar, die spielerischen Leistungen der deutschen Elf waren im Match gegen die Ukraine nicht übel. Manchmal sogar richtig genial. Aber gleichzeitig hat in Österreich die Polizei mit brutaler Gewalt Neonazis bei einer Demonstration den Weg freigeräumt. Gleichzeitig verbreiten sie in deutschen Talkshows wieder primitiven Rassismus. Gleichzeitig knüppelt der französische Repressionsapparat, gestützt auf Notstandsverordnungen, alles nieder, was mit der verschärften Umverteilung von unten nach oben nicht einverstanden ist. Es ist, als habe jemand eine Zeitmaschine angeworfen, die Europa zurücktransportiert in die frühen siebziger Jahre, als auf diesem Kontinent drei faschistische Regimes existierten. Auch die Europameisterschaft fühlt sich entsprechend an, nach Zorn und Wut und nach Nation. Der Widerspruch zwischen einem Turnier, das als freundliches Fest inszeniert ist, und der Realpolitik in diesem Europa lässt sich nicht wegsaufen. Er ist so manifest vorhanden wie es die Folterkeller in Argentinien 1978 waren und wie es die Opfer der Sharia in Katar sein werden. Argentinien! Das Publikum jubelte weltweit, während die Junta Menschen zu Tode foltern ließ. Etwas von dieser Unerträglichkeit ist nun wieder zu spüren. Nur einen Schritt hinter den Massen mit Nationalfarben-Schminke im Gesicht wabern die Tränengasschwaden, laufen bewaffnete Wärter neben den Käfigen, in denen Menschen interniert sind für das einzige Vergehen, in Europa Schutz gesucht zu haben.
Wir gucken aber weiter mit dem riesengroßen Fernseher. In Florida ermordet einer 49 Menschen, weil die in einem Schwulenclub feierten. Vermutlich handelte er im Namen Allahs und seines Propheten (kein Friede sei mit ihm). Der Wahnsinn kriecht aus allen Programmen, auf denen gerade kein Fußball läuft.
Der Fernseher läuft und läuft. Das Tränengas ist weit weg und die Zuschauer sind nur kleine Konsumenten unter Millionen anderen. Fußballzeit ist Werbezeit. »Azerbaijan Energy«, wirbt die Bandenwerbung für die postsowjetische Mafia, oder auch »Turkish Airlines« für die Rackets von Recep Tayyip Erdo­ğan. Kurz wird alles kenntlich, die Herkunft von Blatters Millionen ebenso wie jene Profiteure, die Politik in der bürgerlichen Gesellschaft immer nur als Sprungbrett begriffen, von dem aus sie in die Geldspeicher der Oligarchen und Diktatoren hechten konnten. Die Show, die alle sehen, ist das Kinderprogramm,. Die Erwachsenen treffen sich derweil in den Hinterzimmern dieser Welt und machen Geschäfte. Das wäre kein Problem, handelte es sich dabei nicht um krumme Geschäfte, um Korruption und Vetternwirtschaft, jene engen Verwandten der Mafia-Ökonomie, die bereits ganz Ost- und Südosteuropa bestimmen und weltweit immer wichtiger werden.
Diese EM ist anders als der Clubfußball und all seine innerkapitalistischen, aber amüsanten Funktionsweisen. Es riecht streng nach Fifa und Schmiergeld und gierigen Männern in schwarzen Anzügen. Es ist kein spaßiger Fußball, es ist der Fußball der Nationen. Der Fußball, den wir bei der EM sehen, ist bislang nicht schlecht, aber er macht keine Freude, denn hinter der Party-Schminke steckt die Fratze der Volksgemeinschaft, eine von Hass verzerrte Fratze kollektiven Wahns. Über jeder größeren Feier von Fußballfans hängt die Angst vor Terroranschlägen oder durchdrehenden chauvinistischen Männerhorden. Fußball im länger werdenden Schatten des Wahnsinns.