Die Musik von Klara Lewis

Melodien aus polnischen Bahnhöfen

In Klara Lewis’ Musik verschwimmen die Grenzen zwischen Komposition und Umgebungsgeräuschen.

Sound muss nicht zwingend etwas bedeuten, aber man fühlt etwas. ­Irgendwie habe ich eine ­intuitivere und aufrichtigere Beziehung zu Sound.« So begründet Klara Lewis im Wire-Magazin ihre vorläufige Entscheidung, Musik zu machen und nicht, wie eigentlich vorgesehen, Filme zu drehen. Bei ­ihren Filmversuchen habe sie festgestellt, dass sie schnell beim allzu ­Offensichtlichen lande und Klischees reproduziere, beim Creative Writing sei es ihr ähnlich ergangen. Um dem Klang, den Klara Lewis auf ihrem zweiten Album »Too« produziert, dann doch Bedeutung abzugewinnen, liegt die Versuchung nahe, diesen Sound, der zunächst einmal hermetisch daherkommt, an ihre Biographie zu koppeln, also ihren Lebenslauf auf bedeutsame Indizien, Spuren und Zeichen abzusuchen.
Ein erster Anhaltspunkt könnte der Albumtitel sein. »Too« klingt gesprochen wie »Two«, es ist Klara ­Lewis’ zweites Album nach »Ett«. Beide Albumtitel bestehen aus drei Buchstaben. Alle neun Tracks auf »Too« haben nur ein Wort im Titel: »View«, »Twist«, »Too«, »Else«, »Want« etc. Im Deutschen hat »Too« zwei ­Bedeutungen. Erstens: zu, im Sinne von zu viel, zu spät, zu weit, »Too Old to Rock ’n’ Roll, Too Young to Die«, »The Bed’s Too Big Without You«, »Too Drunk to Fuck«. Zweitens: auch. ­Allerdings wird es im Englischen, ­anders als im Deutschen, nachgestellt: »I’m an Alien Too«, »Silence Is a Rhythm Too«.
In Verbindung mit ihrer Biographie können beide Verwendungen von »too« Bedeutung produzieren: Der Sound von »Too« speist sich aus ­gefundenen Sounds und ergänzt vorhandene, er ist eben auch da, vorhanden im Ambiente. »Ambient ­Music muss verschiedenen Arten selektiven Hörens gerecht werden, ohne eine bestimmte zu bevorzugen«, schreibt Brian Eno 1978 in den Linernotes zu seinem Album »Ambient 1 – Music For Airports«. »Sie muss so ignorierbar wie interessant zugleich sein.« Frank Witzel versteht das so: »Ambient hat immer etwas von Bewegung und vor allem einen Puls, wie niedrig und zurückgenommen der auch sein mag.« All das trifft zu auf »Too«, allerdings unter den Bedingungen gegenwärtiger Techniken, 38 Jahre nach »Music for Airports«.
Das bedeutet vor allem, dass Künstlerinnen wie Klara Lewis die Sounds ihrer Umgebung, ihres ­Ambientes, quasi permanent in ihre Kunst einspeisen, also gleichzeitig aufnehmen und verarbeiten, wobei auch das Wort aufnehmen eine doppelte Bedeutung hat: wahrnehmen, empfangen und aufnehmen im Sinne von recording. Klara Lewis: »Das können Field Recordings sein oder ich sample einen Track, etwas von Youtube oder aus einem Film. Manchmal höre ich etwas im Radio, nehme es im Raum auf und zerschneide es dann.« Das sei eine Mischform aus Sampling und Field Recordings.
Wenn die Musik von Klara Lewis in belebten Räumen gespielt wird, ­verschwimmt die Grenze zwischen Raumatmosphäre und Tonträger-Sound. Wire sieht Lewis zu Recht in der Tradition von Künstlern und Künstlerinnen, die sich von sonischen Abfallprodukten wie Glitches, Clicks & Cuts inspirieren lassen. Auch der Verweis auf Stefan Betke ergibt Sinn. Der Berliner Musiker machte unter dem Namen Pole das Knistern eines defekten 4-Pole-Filters des Synthesizerherstellers Waldorf zur ­Signatur seines Ambient Dub. Und dass Wire im Zusammenhang mit »Too« den Namen Burial anführt, passt ebenfalls.
Aber »Too« kann auch gelesen beziehungsweise gehört werden als: too much. Zu viele Möglichkeiten, um sich für eine einzige zu entscheiden, zu viele Quellen von Sound und zu viele »Arten selektiven ­Hörens«, um eine einzige zu bevorzugen. In Warschau hing Klara Lewis mit ihrem Freund an einem Bahnhof herum. Sie sahen eine alte Frau, die Blumen verkaufte. Sie hatte ein altes Radio und versuchte vergeblich, eine bestimmte Station zu finden, sie wechselte zwischen den Sendern und es klang verzerrt. Leute liefen vorbei, dann kam eine Trambahn und über Lautsprecher die Stimme des Bahnhofsansagers auf Polnisch. »Das war wirklich eine Superaufnahme« – sagt Klara Lewis, die sie zu »Beaming« verarbeitete, dem längsten Track auf »Too«, der auch ein sonisches Abfallprodukt aus einem anderen Projekt sein könnte, an dem Lewis ­derzeit arbeitet. Mit Simon Fisher Turner und Rainier Lericolais produziert die Künstlerin einen neuen Soundtrack zu »Berlin. Die Sinfonie der Großstadt«, dem Stummfilm­klassiker von Walther Ruttman aus dem Jahr 1927.
Mit Simon Fisher Turner zusammenzuarbeiten ist eine der vielen ­Optionen im Leben der 1993 im schwedischen Uppsala geborenen Künstlerin. Mit seinen 61 Jahren könnte der Veteran des britischen Leftfield Pop ihr Großvater sein, auch an »Too« ist Fisher Turner beteiligt. Klaras Vater ist noch mal zwei Jahre älter und beschäftigt sich weiterhin mit Pop-Musik. Sein Name ist Graham Lewis, er hat 1976 in London die Band Wire gegründet, die nach einigen längeren Pausen bis heute aktiv ist. Zudem hatte Lewis diverse Nebenprojekte, die bekann­testen sind He Said und Dome mit B.C. Gilbert, der ebenfalls bei Wire spielt. Eine Compilation der Dome-Alben aus den frühen Achtzigern erschien 2011 beim erlesenen Wiener Label Editions Mego.
Also schickte Klara Lewis ihre eigenen Aufnahmen ebenfalls dorthin. Peter Rehberg, der Gründer des Labels, mochte das Material und brachte es heraus. Angeblich erfuhr er erst hinterher, wessen Tochter diese Klara Lewis ist, die eigentlich Filme ­drehen wollte – oder sollte –, wie ihre Mutter.
Offenbar ist das künstlerische Schaffen ihrer Eltern für Klara Lewis weniger Vorbelastung als Chance. Eine Distanzierung scheint obsolet, der gute alte Generationskonflikt wird abgelöst von generationsübergreifendem Einvernehmen. Ein Ausdruck dieser produktiven künstlerischen Verwandtschaft mag die Tatsache sein, dass »All over«, das Soloalbum von Graham Lewis von 2014, in puncto Klangästhetik mit der Musik seiner Tochter einiges gemeinsam hat. Von den wichtigen britischen Punk-Bands der frühen ­Jahre waren Wire am weitesten vom Rock entfernt und haben ihre mu­sikalischen Formeln immer wieder revidiert, mit Drones und Klang­flächen gearbeitet und das Songformat gedehnt.
Als Digital Native, so stellt man es sich beim Hören dieser aufs Schönste undurchdringlichen Musik vor, muss Klara Lewis die künstlerischen Auseinandersetzungen und Häutungsprozesse, die ihre Eltern durchzustehen hatten, nicht wiederholen. Mit ihren 23 Jahren kann sie die Atemporalität des Internet für sich ­nutzen. »Ett« und »Too« sind Alben, ­denen die Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen eingeschrieben ist: der jederzeitige Zugriff auf jede Musik, lösgelöst vom zeitlichen Kontinuum, respektive von allen Brüchen.
Mit dem Zeitkontinuum lösen sich im Sinne Enos auch die Hierarchien der Wahrnehmung auf. Künstler­innen und Künstler müssen über eine immer wichtiger werdende Fähigkeit verfügen. Sie müssen Kontingenz ertragen und zulassen können. Vielleicht, das wäre die steile These, können Frauen das besser, vielleicht ist der reflektierte Umgang mit Kontingenz eine dieser Fähigkeiten, die gerade dabei sind, von der Sekundärtugend zur Kernkompetenz zu ­werden.
Das würde erklären, warum der neue Produzententyp, vernetzt und mit akademischem Background, vor allem ein Produzentinnentyp ist. Nomadisch und globalisiert könnte man hinzufügen und Klara Lewis bei allen gravierenden Unterschieden in einer Reihe nennen mit Fatima al-Qadiri, Planningtorock, Inga Copeland, Jessy Lanza, Maria Minerva und FKA Twigs.

Klara Lewis: Too (Editions Mego/Godbrain Distribution)