Der Schriftsteller Wolfgang Welt ist tot. Ein Nachruf

Der unerfüllte Wille zum Glück

Mit dem Tod des Autors Wolfgang Welt verstummt ein unverwechselbarer Sound.

Vieles hatte sich zuletzt verändert im Universum des Wolfgang Welt. »Inzwischen«, so heißt es am Anfang seines letzten, 2014 erschienenen Romans »Fischsuppe«, »war Frühstücksfernsehen eingeführt worden.« Und während der Grunge und die Grufties die Bars am Bochumer Bermuda­dreieck fluteten und im WDR-Radio die Musik von Nirvana den legendären Musikreporter Alan Bangs ablöste, galt es für Welt selbst, vom Tod des Vaters und dem Schlaganfall der Mutter zu erzählen. Damit knüpfte der schmale Band über die gerade beginnenden neunziger Jahre chro­nologisch an das Ende des 2009 erschienenen Romans »Doris hilft« und Welts abermalige Einweisung in die Psychiatrie an.
Ansonsten lief es weiter wie gehabt: Mit dem Aufschreiben einer stets zwischen höchsten Ambitionen, Mittelmäßigkeit und gelegentlichem Wahnsinn oszillierenden Biographie eines zeitlebens nicht so recht aus den Puschen Gekommenen – vermittelt aus der 20jährigen Rückschau eines Mannes, der sich mit all dem schon längst arrangiert hat. Mit dem Tod Welts, der am vorvergangenen Sonntag im Alter von 63 Jahren gestorben ist, verstummt dieser Sound.
Wolfgang Welt wurde 1952 in ­Bochum geboren und kam, abgesehen von einigen Wochen, die er in London verbrachte, nie länger aus dem Ruhrgebiet raus. Er arbeitete bis zuletzt als Nachtwächter, zuerst in der Ruhrlandhalle, seit 1991 dann im Bochumer Schauspielhaus. Nebenher schrieb er immer wieder Artikel für verschiedene Zeitschriften wie Sounds, das Bochumer Stadtmagazin Marabo oder den Musikexpress. Das alles lässt sich sehr detailliert in seinen Romanen nachlesen.
Seit Mitte der achtziger Jahre veröffentlichte Welt fünf Romane, zunächst im Konkret-Verlag, dann bei Suhrkamp, zuletzt im Verlag Peter Engstler. Wie die seines Vorbildes Hermann Lenz setzte auch Welts Re­zeption so richtig erst mit der Entdeckung durch Peter Handke ein, der seine Prosa schließlich an Suhrkamp vermittelte und so einem etwas größeren Leserkreis bekannt machte.
Damit war der Bochumer endlich, was er immer sein wollte: berühmt. Auch das kann man nachlesen, denn wie ein Leitmotiv durchzieht Welts Romane dieser unbedingte Wille zum Schreiben, oder besser, selbst Schriftsteller zu sein. Dass zwischen beidem ein Unterschied besteht, der eigentlich gar keiner sein dürfte, auch wegen dieser Erkenntnis ist Welts Werk so lesenswert. In »Doris hilft« etwa ist es Rainald Goetz’ skandal­trächtige Performance im Rahmen des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis 1983, die neuerliche Ambitionen bei Welt entfacht. »Aber erst mal musste ich ein Buch schreiben, und dazu hatte ich jetzt keine Lust.« Und auch lesen will er nicht, »kein einziges Buch in der Zeit, auch ›Irre‹ nicht«. Welts Verdienst ist es, neben dem bloßen Ausstellen seiner grauen Realitätsdiagnose, zu zeigen, dass das unbedingte Schreibenwollen auch schon Literatur sein kann: »Vielleicht war ja mein Leben das Buch und brauchte nicht mehr geschrieben werden. Ich werde der erste Autor, der einen Nobelpreis bekommt, ohne je ein Buch geschrieben zu haben.«
Mit seinem Förderer Handke, dessen »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« für den 17jährigen Welt die Inspiration zum Schreiben war, verbindet den oft als Vater des deutschsprachigen Popromans bezeichneten Bochumer die Liebe zur Musik der fünfziger und sechziger Jahre. Bei Hermann Lenz dagegen findet man die Protokollierung des Weltverlaufs und seiner Erscheinungsform im Kleinen, der Alltäglichkeit. Ein dritter Verwandter der Prosa Wolfgang Welts sind die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels, in denen Kometen am Himmel leuchten, Erdbeben die Welt erschüttern und der Rheinländische Hausfreund der Dorfgemeinschaft anhand des Kirchturms erklärt, dass die Erde nicht eben, sondern rund ist. Das Große im Kleinen und umgekehrt. Bei Welt ist es der große Buddy Holly, der auf der Bochumer Wilhelmshöhe spaziert, zumindest im Titel des 2006 erschienen Bandes, der Welts erste drei Romane enthält. Allen voran aber sind es die kürzeren Texte, in denen es Welt darum geht, die Geschichten, die der große amerikanische Pop schreibt, über den Teich und in die hiesigen Zeitungen zu bekommen. In diese Geschichten eingearbeitet werden die Beschreibungen der Öffnungszeiten lokaler Kneipen und Lottoannahmestellen, deren wechselnde Besitzer und Belegschaft, Kriegsversehrte, marode Ehen oder die Aufstellung verschiedener Kreisligamannschaften. »Ich wollte diesen Leuten ein Denkmal setzten, die sonst nicht mal einen Grabstein bekommen«, sagte Welt einmal in einem Interview.
Oft liest man eine weitere Charakterisierung, die ihm jedoch genauso »scheißegal« gewesen sein dürfte wie all die anderen, die in jüngster Zeit aufkamen: die des Chronisten des verfallenden Ruhrgebiets. Im Zuge des Revivals deutschsprachiger Popliteratur, mit den Bekenntnissen des anscheinend geläuterten Ben­jamin von Stuckrad-Barre, der Verleihung des Büchner-Preises an Rainald Goetz und dem Hype um das Debüt Ronja von Rönnes fiel Welts Name trotzdem nur selten. Obwohl sein Sound für einen Großteil dieser und weiterer Autorinnen und Autoren stilbildend war.
Eine von dem Schriftsteller Marc Degens ins Leben gerufene Unterschriftenliste forderte jüngst die Verleihung des Literaturpreises Ruhr an Welt – wieder einmal vergeblich. Zuletzt arbeitete Welt unter dem Arbeitstitel »Pannschüppe« an einem neuen Roman. Wo im Privaten wohl der Tod der Mutter als nächster der vielen kleinen Erzählschritte gestanden hätte, wäre es für Welt an der Zeit gewesen, globale Ereignisse wie die des 11. September und die Musik der jüngsten Vergangenheit in seine Prosa einzubeziehen. Ob Welts Erzählweise diesen Sprung ins 21. Jahrhundert unbeschadet überstanden hätte, wird nicht mehr zu beantworten sein. Mit dem Aussterben der Bergleute auf der Wilhelmshöhe endete auch »das Buch Wolfgang Welt«, wie es Peter Handke einmal genannt hat.

In der Ausgabe vom 7. Juli veröffentlicht die Jungle World einen Nachdruck aus einem der Werke Wolfgang Welts.