Trotz EU-Krediten bleiben die Prognosen für die griechische Wirtschaft schlecht

Nach dem Berg kommt der Abstieg

Griechenland hat Hilfskredite aus dem Europäischen Stabilitäts­mechanismus erhalten. Die Regierung setzt auf »gerechtes Wirtschaftswachstum«, bei der Bevölkerung kommt davon noch nicht viel an.

Von einem Gesetz für wirtschaftliches Wachstum und Investitionen erhofft die griechische Regierung die Überwindung der langjährigen Krise. Gefördert werden sollen vor allem Investitionen in die Infrastruktur sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze und »gerechtes Wachstum«. All dies soll in den kommenden fünf Jahren geschehen. Das neue nationale Ziel solle sein, dass Griechenland bis 2021 zur Normalität zurückkehrt, so Ministerpräsident Alexis Tsipras. Doch die Stimmung in Griechenland ist schlecht. Ein Jahr nach der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen, der Ablehnung der von den Gläubigern geforderten Sparpolitik beim Referendum vom 5. Juli 2015 und dem darauffolgenden harten Sparkurs fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger betrogen. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, Armut ist weitverbreitet, immer mehr Unternehmen machen dicht oder verlegen ihre Firmensitze ins Ausland und die Experten warnen vor einer neuen Debatte über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsgemeinschaft nach dem Referendum in Großbritannien. Einer Wahlumfrage des Instituts Kapa Research nach dem Abschluss der ersten Inspektion der Kreditgeber zufolge hat sich zwar der Rückstand der Regierungspartei Syriza (17,3 Prozent der Stimmen) auf die konservative Partei Nea Demokratia (20,8 Prozent) mittlerweile verringert, trotzdem führen die Konservativen seit Monaten in Umfragen. Mehr als 60 Prozent der Befragten bewerten den Abschluss der Inspektion als positiv und die Mehrheit ist gegen Neuwahlen; 52,6 Prozent meinen, man solle der Regierung Zeit geben.
Nach der Inspektion gab der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) die lang ersehnte nächste Kredittranche in Höhe von 7,5 Milliarden Euro an Griechenland frei. 5,7 Milliarden Euro sollen zur Bedienung der öffentlichen Schulden aufgewendet werden, die restlichen 1,8 Milliarden für die Begleichung inländischer Zahlungsverpflichtungen. Weitere 2,8 Milliarden Euro sollen ab September ausgezahlt werden – aber nur, wenn die griechische Regierung eine Reihe Bedingungen erfüllt, also weitere harte Sparmaßnahmen und umstrittene Reformen vornimmt, darunter eine Arbeitsmarktreform. Griechenland sei in der Finanzkrise bereits »über den Berg«, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vergangene Woche im griechischen Fernsehen. Griechenland hofft auch auf Geld aus dem sogenannten Juncker-Plan, der vorsieht, dass in der EU bis zum Jahr 2018 mit Hilfe eines Fonds öffentliche und private Investitionen von etwa 315 Milliarden Euro angestoßen werden. Über eine Schuldenerleichterung soll wohl erst ab 2018 diskutiert werden, nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich.
Zudem hat die Europäische Zentralbank entschieden, die griechischen Banken ab Ende Juni wieder günstiger zu refinanzieren und die Ausnahmeregelung für griechische Staatsanleihen, die sie kurz nach dem Amtsantritt der Regierung von Tsipras im Januar 2015 ausgesetzt hatte, wieder in Kraft zu setzen. Die Prognosen für die griechische Wirtschaft sind jedoch schlecht. Nach Einschätzung der Zentralbank in Athen wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 0,3 Prozent zurückgehen. In ihrem Vorausbericht für das laufende Jahr schreibt die Bank von Griechenland, dass der Schuldenberg schrittweise abgebaut werden und das Ziel eines primären Haushaltsüberschusses (ohne Schuldendienst) von 3,5 Prozent bis zum Jahr 2018 auf zwei Prozent korrigiert werden müsse, damit Wachstum erreicht werden könne.
»Diese Regierung hat Versprechungen gemacht, die sie gar nicht erfüllte, und genau das Gegenteil umgesetzt. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, von den Politikern betrogen zu werden«, meint eine 38jährige arbeitslose Griechin in Athen, die anonym bleiben will. Voriges Jahr, beim Referendum, hat sie gegen die Sparpolitik gestimmt und war enttäuscht, wie schnell die Regierung unter dem Druck der EU ihre Linie änderte und sich mit den Gläubigern auf neue Sparmaßnahmen verständigte. Sie hat Anfang des Jahres ihren Teilzeitjob in einem Callcenter verloren und lebt jetzt von Arbeitslosengeld: 360 Euro monatlich – genauso viel, wie sie in ihrem vorigen Job verdient hatte. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in Athen, die ihr gehört. »Ich kann gerade die Rechnungen zahlen und Lebensmittel einkaufen, sonst nichts. Ich überlege, Ende des Jahres, wenn ich kein Arbeitslosengeld mehr bekomme, auszuwandern«, sagt sie. Zwar versucht die Regierung, beispielsweise durch die Gewährung von Mietzuschüssen und kostenloser Stromversorgung, die Ärmeren zu unterstützen, doch die Zahl der Verarmenden nimmt ständig zu. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei mehr als 24 Prozent.
In der Nachbarschaft der arbeitslosen Frau stehen mehrere Geschäfte leer. Vor den Schaufenstern geschlossener Geschäfte haben Obdachlose kleine improvisierte Unterkünfte aus Plastik und Holz gebaut. Auf den Straßen Athens sieht man immer mehr junge Menschen betteln. In einem Lebensmittelladen diskutieren zwei Kleinunternehmer die Entwicklungen in Großbritannien und die Lage der griechischen Wirtschaft. Die Tatsache, dass es immer noch Kapitalverkehrskontrollen gibt, erschwert ihr Geschäft. »Wir Unternehmer suchen nach Möglichkeiten, zu bezahlen und bezahlt zu werden«, sagt Dimitris, ein 50jähriger Händler. Er werde bald seinen Laden schließen, weil er nur noch Ausgaben habe und keine Einnahmen. Er meint, dass die griechische Regierung keinen politischen Willen habe, den Kleinunternehmern zu helfen. »In Griechenland wird ein Programm befolgt, das den menschlichen Faktor nicht berücksichtigt«, so Dimitris. Sein Freund, ebenfalls Händler, stimmt zu. Sein Geschäft befindet sich im Zentrum der Athener Innenstadt. Trotzdem kommen immer weniger Kunden. Gegen diese Umstände könnten er und die anderen Bürger nichts mehr machen, sagt er deprimiert: »Die Griechen haben keine Kraft mehr zu protestieren. Sie gingen die letzten sechs Jahre immer wieder auf den Straßen. Jetzt reagiert niemand mehr. Jetzt geht es ums Überleben. Uns wurde die Zukunft gestohlen.« Die große Enttäuschung hat in der Bevölkerung zu einer Lähmung geführt. »Wir erleben derzeit einen Rückgang der sozialen Kämpfe – trotz wichtiger Protestaktionen, die verstreut stattfinden«, sagt der Politologe und Vorsitzende des Meinungsinstituts Public Issue, Giannis Mavris, in der linken Zeitung O Dromos tis Aristeras.
Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage sind viele Griechinnen und Griechen weiterhin solidarisch mit den Flüchtlingen, die seit der Schließung des Balkan-Korridors im März im Land festsitzen. Mittlerweile rechnet man mit mehr als 57 000 Menschen, die in offiziellen oder inoffiziellen Lagern sowie in den sogenannten Hotspots untergebracht sind. Seit dem Inkrafttreten des umstrittenen Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei am 18. April ist die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge konstant niedrig. Mehr als 8 500 Schutzsuchende, die nach diesem Tag in Griechenland angekommen sind, sitzen auf den Ägäis-Inseln in den überfüllten Hotspots oder anderen Erstaufnahme- und Haftlagern unter erbärmlichen Bedingungen fest. Sie haben wegen fehlenden Personals keinen sicheren Zugang zum Asylverfahren. Auf dem Festland hat die Vorregistrierung von Flüchtlingen in den offiziellen Lagern Anfang Juni begonnen. Wochenlang versuchten Schutzsuchende, unter ihnen zahlreiche Menschen aus gefährdeten Gruppen, sich mittels Skype für einen Asylantrag anzumelden, was fast unmöglich war. Die versprochene rasche Umsiedlung der Flüchtlinge in andere EU-Länder bleibt weiterhin aus. Den Informationen der griechischen Asylbehörde zufolge wurden bis zum 19. Juni erst 1 672 Flüchtlinge in andere EU-Länder umgesiedelt.