Reflektiere!

Yannis hält sich verzweifelt an dem Stift in seiner Hand fest und starrt unglücklich auf ein sehr leeres Blatt Papier. Er muss eine Reflexion schreiben, eine umwerfend sinnvolle pädagogische Maßnahme mit dem Ziel, ihm vermittels Einsicht künftig und nachhaltig die Vermeidung von Fehlverhalten zu ermöglichen. Derselbe Schüler saß vor einer Woche bereits am selben Ort und sollte für mich genau so einen Text schreiben, in welchem er sein großes Verständnis der vielen negativen Auswirkungen seines ständigen Zuspätkommens bekunden sowie die Ursachen des Problems analysieren und eine möglichst konkrete Lösung erarbeiten sollte.
Das war auch überhaupt kein Problem für ihn: »Ich wache zu spät auf und schlafe dann wieder ein. Ich muss früher aufwachen und nicht wieder einschlafen. Und noch mehr leise sein«, stand nach nur einer halben Stunde vollkommen richtig auf seinem Zettel, der von mir dann doch nicht in seine Schülerakte eingeheftet wurde. Ich bin schließlich nicht irre, am Ende kommt noch wer und will, dass ich erkläre, warum Yannis eigentlich keine Fünf in Deutsch hat.
Und jetzt sitzt er wieder da, wegen Herrn Müller, den er, wie ich weiß, ­eigentlich liebt, weil Yannis zu den Schülern gehört, die ausschließlich Achtung vor Lehrern haben, die scheiße zu ihnen sind. Und nun hat aber umgekehrt er Herrn Müller oder dessen ­Unterricht, Yannis erinnert sich nicht genau, als »scheiße« bezeichnet, irgendwie aus Spaß, wie er beteuert, und jetzt müsse er eben eine Reflexion schreiben, die besonders gut werden solle, weil Herr Müller gesagt habe, dass er ihn sonst wegen Beleidigung anzeigt oder vielleicht auch seine Mutter, weil die ja letztlich für alles verantwortlich sei. Ich versuche, Yannis zu erklären, was er alles verstanden und eingesehen haben und bereuen und schreiben muss und gehe Herrn Müller suchen, was schwierig ist, weil inzwischen die Pause begonnen hat und ich von lauter Achtklässlerinnen verfolgt werde, die wissen wollen, ob Yannis jetzt vor Gericht muss und wie hoch die Strafe für ihn dann wird und ob das überhaupt alles so geht, wo Yannis doch erst 14 ist. Endlich gefunden, erklärt Herr Müller mir sehr sachlich und mit nur leicht rotem Kopf, dass er einen Schlussstrich ziehen, ein Zeichen und ein ­Fanal setzen und Yannis durchaus wegen Beleidigung anzeigen wolle, sollte dies notwendig werden, sollte also Yannis keine anständige Reflexion zustande bringen. Ich laufe zurück und lese Yannis’ Entwurf, weine und klage und bete ein bisschen und erkläre ihm ­erneut, was er denken und empfinden muss.
Zwei Tage später hat Yannis fünf Reflexionen geschrieben, die endgültige und korrekt abgeheftete Fassung wurde ihm vermutlich von irgendwem diktiert, der sich nach Ruhe und Frieden und weniger Wahnsinn gesehnt hat. Aber ich war’s nicht, ich darf sowas gar nicht.