Die Folgen des jihadistischen Attentats auf den Istanbuler Flughafen

Wer ist der Nächste?

Während die Menschen in der Türkei über das nächste Anschlagsziel spekulieren, sieht sich die Regierung mit den desaströsen Folgen ihrer Politik konfrontiert.

Die Firuzağa-Moschee ist das Zentrum des Istanbuler Szeneviertels Cihangir. Bereits seit einigen Jahren wird das Kaffeehaus im Schatten des Gotteshauses nicht mehr von alten Männern nach dem Gebet genutzt. Es ist ein Treffpunkt von Künstlern, Cartoonisten, Journalisten, Schauspielern und anderen Kreativen geworden. Neben Tee und türkischem Kaffee gibt es auch Caffè Latte, Croissants und griechischen Eiskaffee. »Cihangir ist ein potentielles Anschlagsziel«, mumaßt ein Gast mit einer Ray-Ban-Sonnenbrille. »Nee, dann eher Bodrum oder Antalya«, brummt ein anderer.
Ein normales Istanbuler Nachmittagsgespräch. Trotz aller Terrorwarnungen ist das Café voll wie eh und je, nur die Touristen fehlen. Zum Ende des Fastenmonats Ramadan wimmelte es in den vergangenen Jahren vor allem von Gästen aus den benachbarten Krisengebieten. Doch seit sich die Bombenanschläge in der Türkei häufen und immer wieder Touristen zu den Opfern gehören, vermeldet das Land Einbrüche in der Ferienwirtschaft. Nach offiziellen Angaben gibt es 50 Prozent weniger Besucher, in Istanbul ist der Rückgang jedoch stärker. In den für arabische Besucher eröffneten Zuckerbäckereien am Taksim-Platz herrscht gähnende Leere. Die syrischen Übersetzer lehnen gelangweilt an arabischen Werbetafeln, die Baklava mit Sahneeis anpreisen. Nashwan M., ein Fotograf aus Damaskus, schlendert in Richtung Metro. Die meisten seiner Freunde sind im Sommer vergangenen Jahres nach Europa ausgewandert. »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, sinniert er ernst. »So langsam schwappt der Konflikt über in die Türkei.«
»Syrer sind unsere Brüder, jeder Syrer kann die türkische Staatsbürgerschaft beantragen«, verkündete Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Samstag bei einem Fastenbrechen in der Provinz. »Wir wollen keine Syrer«, lautete darauf hin ein Hashtag auf Twitter, der tausendfach geteilt wurde. Appelle an die muslimische Brüderlichkeit sind in diesen Tagen in der Türkei nur noch für Werbespots regierungsnaher Vereine gut.
Der Terroranschlag im Istanbuler Atatürk-Flughafen am Dienstag vergangener Woche wurde den Ermittlungen zufolge von Jihadisten aus den Reihen des »Islamischen Staats« (IS) verübt, die russische Pässe besaßen. Ein Russe, ein Usbeke und ein Kirgise schossen in die Menge und sprengten sich dann in der Eingangshalle in die Luft. Türkische Ermittler haben mittlerweile neue Erkenntnisse zu den vermuteten Hintermännern. Der Hauptverdächtige habe einen Tag vor dem Terrorangriff mit einem der drei Selbstmordattentäter telefoniert. Das meldet die türkische Nachrichtenagentur DHA. Die Zahl der Todesopfer ist unterdessen auf 45 gestiegen.
Die türkische Polizei hat 30 Verdächtige aus dem Umfeld des IS inhaftiert. Die nach dem Anschlag erlas­sene Nachrichtensperre konnte jedoch nicht verhindern, dass in den sozialen Medien Rufe nach einem Rücktritt der Regierung laut wurden. Das Verbot der schon traditionellen Pride-Demonstration am 26. Juni auf dem İstiklal-Boulevard in der Nähe des Taksim-Platzes war mit Terrorwarnungen begründet worden. Das nun der Flughafen kurz vor dem islamischen Zuckerfest Ort eines Massakers wurde, schadet dem Ansehen der Regierung selbst bei deren Anhängern. Präsident Erdoğan lässt dennoch keine Gelegenheit aus, in Fettnäpfchen zu treten. Kurz nach dem Anschlag hatten viele Taxifahrer am Atatürk-Flughafen Wucherpreise von ihren Kunden verlangt, auf Twitter empörten sich Nutzer über diese »Diebesmentalität«. Erdoğan erklärte daraufhin seine Solidarität mit den ­Taxifahrern; er selbst möge auch keine sozialen Medien, da würde ja immer nur gehetzt.
»Die Erdoğan-Familie sucht bereits nach Möglichkeiten, ins Exil zu gehen«, twitterte nach dem Anschlag ein gewisser »Fuat Avni«. Das ist der Deckname eines Nutzers, der schon oft Informationen aus Geheimdienstkreisen verbreitet hat, die sich später bestätigten. Ob diese zutrifft, kann niemand verifizieren. Die plötzlich versöhnliche Haltung der Regierung gegenüber Russland und Israel ist jedoch weniger ein Resultat im Präsidentenpalast eingekehrter außenpolitischer Besonnenheit, sondern eher Ausdruck von Panikstimmung. »Krieg im Ausland trägt den Krieg auch nach Hause«, titelte die Medienplattform T24 kurz nach dem Terroranschlag. Das ist eine Abwandlung eines Zitat des Staatsgründers Atatürk, der nach der verheerenden Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg als Doktin türkischer Außenpolitik eine Abkehr der jahrhundertelangen Expansionspolitik mit den Worten »Frieden im Ausland bringt der Heimat Frieden« proklamiert hatte.
Die laxe Politik der türkischen Ordnungskräfte der vergangenen zwei Jahre rächt sich jetzt bitter. Etwa 1 500 Jihadisten, die Hälfte von ihnen Söldner aus dem Ausland, soll es auf türkischem Boden geben. »In Städten wie Gaziantep und Istanbul blüht ein Schwarzmarkt von Drogen, Waffen, Frauen und Selbstmordattentätern«, meint der Damaszener Nashwan M. ernst. »In der Türkei gibt es zwar keine Sozialhilfe, das System ist aber ge­nauso korrupt wie in Syrien. Wer will, überlebt mit schmutzigen Geschäften.« Nashwan selbst macht keine. Er hält sich mit Übersetzungen und ­kleinen Aufträgen aus der Werbebranche über Wasser. Der Absolvent einer Kunsthochschule bearbeitet digital Fotos, übersetzt für syrische Schauspieler, jobbt als Regieassistent. Syrische Kreative sind mittlerweile in der Türkei gefragt, sie haben eine gute Aus­bildung und sind darauf angewiesen, für weniger als die Hälfte der Bezahlung türkischer Kollegen zu arbeiten.
Der ungleiche Konkurrenzkampf lässt in der Bevölkerung den Unmut über Syrer wachsen und führt zu einer latent repressiven Migrationspolitik. Die türkische Immigrationsbehörde verweigert mittlerweile Syrern nach einer Ausreise die erneute Einreise in die Türkei. Die bekannte syrische Schauspielerin Amal Omran etwa durfte, obwohl sie ihren Wohnsitz in Is­tanbul hat, nach einem Arbeitsaufenthalt in Paris nicht ins Land zurückkehren. Um eine Aufenthaltsgenehmigung hatte sie sich wochenlang erfolglos bemüht. Die Türkei ist mit der Flüchtlingspolitik komplett überfordert. Der Anschlag am Flughafen und die schnellen Ermittlungserfolge im Täterumfeld lassen darauf schließen, dass es ein großes Reservoir potenti­eller Terroristen gibt. Die Regierung ist sich dessen bewusst, eine schnelle ­Lösung für die Beseitigung dieses Gefahrenpotentials gibt es allerdings nicht.