»Raus Rein«, ein Comic über die deutsche koloniale Vergangenheit

Als Hans sich auf den Weg nach Ruanda machte

Die koloniale Vergangenheit Deutschlands wurde bislang kaum im Comic thematisiert. »Raus Rein« widmet sich der Geschichte einer ehemaligen Kolonialschule in Hessen, deren Schüler zu Siedlern ausgebildet wurden.

In der Geschichte des Comic finden sich unzählige problematische Blicke der Mehrheitsgesellschaft auf Minderheiten, Stereotypen und Klischees. Ein besonders prägnantes und bekanntes Beispiel ist der »Tim und Struppi«-Band »Tim im Kongo« von 1930. Der belgische Comic-Zeichner Hergé reproduzierte darin nicht nur insbesondere für Kinder den europäischen Blick auf Afrika, sondern versteckte zugleich zwischen den Bildern all jene Grausamkeiten, die den belgischen Kolonialismus geprägt haben: zehn Millionen Tote, die Ausbeutung des Landes und das bis heute andauernde Trauma des Kongo auf der einen und Belgiens Verdrängung dieses Teils der eigenen Geschichte auf der anderen Seite. Weil der Kolonialismus auf diese Weise nicht nur die Geschichte, sondern eben auch die Comic-Geschichte Belgiens geprägt hat, ist er bis heute in Comics dort ein immer wiederkehrendes Thema.
Die koloniale Vergangenheit Deutschlands dagegen ist bislang im Comic kaum thematisiert worden, so wie sie auch in gesellschaftlichen Debatten oder im Geschichtsunterricht lange Zeit lediglich am Rande behandelt worden ist. Aus diesem Grund ist die Geschichte der im Mai 1898 gegründeten ehemaligen Kolonialschule im hessischen Witzenhausen bis heute wenig bekannt. In dieser bis 1944 existierenden Lehranstalt wurden spätere Siedler der deutschen Kolonien beispielsweise in tropischer Landwirtschaft ausgebildet. Etwa 600 staatlich geprüfte Tropenlandwirte brachen bis zum Ersten Weltkrieg von Deutschland in Richtung des afrikanischen Kontinents auf, denn »subtropische Länder haben unsere Volkswirtschaft und unsere nationale Ausdehnungskraft so nötig wie das tägliche Brot«, wie Ernst Albert Fabarius, der Gründungsdirektor der Schule, in einer Rede dozierte.
Über Fabarius, die Rolle der Bildungseinrichtung im Nationalsozialismus und ihr Ende spricht auch Dr. Christian Hülsenbusch, Geschäftsführer des Deutschen Instituts für tropische und subtropische Landwirtschaft, der Nachfolgeinstitution der »Tropenschule«, in einem Interview, das in dem soeben erschienenen Sammelband »Raus Rein. Texte und Comics zur ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen« enthalten ist. Darin haben sich Studierende der Geschichte, Agrarwissenschaften und Kunst aus Kassel mit diesem Teil der Vergangenheit ihrer Region beschäftigt.
Unter der Leitung des Comic-Zeichners und Professors für Illus­tration, Hendrik Dorgathen, wurden Quellen aus den Archiven der Kolonialschule und des ebenfalls dort ansässigen »Völkerkundlichen Museum Witzenhausen« untersucht, die vorhandenen Relikte aus der Kolonialzeit betrachtet; auch über Sekundärliteratur näherte man sich dem Thema an. Die historischen Fakten wurden in fiktive Szenarios, kleine Skizzen, erdachte historische Zeitungsartikel und Comics transformiert. Erweitert um Interviews, Beschreibungen der vorgefundenen Objekte wie etwa afrikanische Musikinstrumente und Informationstexte über die Schule und den Comic im Kolonialismus bieten sie einen Einstieg in die (post-)kolonialen Bildwelten.
Die Comics zeigen, wie der Titel des Buchs schon andeutet, Wege ins kolonisierte Afrika, reflektieren so den Auftrag der Schule, Menschen für die Ausbeutung der deutschen Kolonien im heutigen Namibia, Kamerun, Tansania, Ruanda, Burundi, Togo, Gabun, der Zentralafrikanischen Republik und dem Tschad auszubilden. Die Studierenden aus Kassel nehmen zunächst die Perspektive der ehemaligen Kolonialschüler und -lehrer ein, lassen deren rassistisches Denken für sich sprechen und sich selbst entlarven. Elena Seubert etwa erzählt die Geschichte Hanns Bagdahns, der 1931 nach Afrika aufbrach, dort eine Plantage betrieb und den Beginn des Zweiten Weltkriegs feierte. Er gründete eine Familie und fühlte sich ungerecht behandelt, als er im Zuge der Dekolonisierungsprozesse das Land mit seiner Frau verlassen muss: »44 Jahre mit großen Entbehrungen. Ich habe aus einem brachen Land einen ertragreichen Betrieb erschaffen! Und die Afrikaner verdienten ihren Lebensunterhalt bei mir.«
Bagdahn kehrte zurück nach Witzenhausen, wo er das »Völkerkundliche Museum« übernahm. Dort sind Dokumente und Objekte aus den Kolonien gesammelt, etwa zwei menschliche Schädelknochen, über deren unbekannte Herkunft Hendrik Dorgathen in einem Comic und einem Text spekuliert. Auch ein mit »Heil Hitler« unterschriebener Bescheid über den Nachlass von Selemani Bin Juma findet sich dort. Ein Comic von Florian Biermeier erzählt die Geschichte des Mannes, der als Zehnjähriger nach Deutschland gebracht wurde und dort unter dem Namen Franz Seelemann verschiedene Aushilfstätigkeiten ausübte. Zuletzt war er als Putzkraft in der Kolonialschule tätig, bis er 1940 starb.
Das Buch bildet viele solcher kleinen Geschichten ab, aus denen sich ein Mosaik der Kolonialgeschichte Deutschlands zusammensetzt. »Raus Rein« zeigt Kontinuitäten des kolonialen Denkens, die sich in Comics wie »Mecki bei den Negerlein« von 1957 oder auch der nur geringen Aufarbeitung der Geschichte von Institutionen wie der Kolonialschule Witzenhausen manifestieren. Das Buch versteht sich als Teil der notwendigen Beschäftigung mit dem Thema, als Anfang, nicht als Abschluss. »Der Prozess hat begonnen, wir haben den Faden aufgenommen«, schreiben Hendrik Dorgathen und Marion Hulverscheidt im Vorwort. »Dieser Vorgang ist nicht beendet, kann kein ›endgültiges‹ Ende finden.«

Hendrik Dorgathen/Marion Hulverscheidt: Raus Rein. Texte und Comics zur ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen. Avant-Verlag, Berlin 2016, 172 Seiten, 24,95 Euro