Die Nato und ihre neuen und alten Feinde

Der Feind, den viele lieben

Mit militärischer Symbolpolitik will die Nato die baltischen Staaten beruhigen und Russland abschrecken. Dessen stärkste Waffe im Konflikt mit dem Westen sind jedoch nicht Panzer oder Raketen, sondern die europäischen Rechten.

Plichtbewusste Teilnehmer des Nato-Gipfels am 8. und 9. Juli in Warschau mussten fleißig lesen. 139 Artikel und mehr als 110 000 Zeichen umfasst die Abschlusserklärung. Man hatte sich offenbar bereits vorher geeinigt, das Treffen war eher eine politische Demonstration als ein Verhandlungsforum. So macht das Dokument deutlich, dass die Nato sich als global handelnde Militärallianz versteht, die etwa über das nordkoreanische Atomprogramm »tief besorgt« ist, aber auch Probleme mit der Privatisierung unter anderem der Telekommunikation und des Bahntransports hat, die nun umständliche Verhandlungen mit Konzernen und Richtlinien der Regierungen zum Zivilschutz erfordert.
Doch im Zentrum des Interesses stand Russland. Ab Anfang 2017 sollen vier multinationale Truppenverbände in Bataillonsstärke, insgesamt etwa 4 000 Soldaten, in Polen, Estland, Lettland und Litauen stationiert werden. Die Beteiligung der Mitgliedstaaten ist freiwillig, die Soldaten werden regelmäßig ausgetauscht, da eine dauerhafte Stationierung als Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte von 1997 gelten könnte. Damals hatte das Militärbündnis zugesagt, im »vorhersehbaren Sicherheitsumfeld« werde es »eher« die Mobilität der Truppen erhöhen, »als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert«.
Das »Sicherheitsumfeld« wird in dem Dokument so beschrieben: »Die Nato und Russland betrachten einander nicht als Gegner.« Davon kann keine Rede mehr sein, auch wenn die Konfrontation längst nicht die Intensität des Kalten Kriegs mit seinen gewaltigen Panzerarmeen und nuklearen Overkill-Kapazitäten erreicht hat. Unklar ist hingegen, welche Regeln in der neuen Konfrontation gelten. Die Außenpolitik der Sowjetunion war berechenbar. Die Politik Wladimir Putins ist es nicht, der Präsident liebt Überraschungen, und es macht die Analyse nicht einfacher, dass imperialistische Ziele im klassischen Sinn – Kontrolle von Rohstoffquellen und Handelsrouten etwa – nicht erkennbar sind.
Ökonomisch müsste es sein Ziel sein, mit jenen Staaten zusammenzuarbeiten, die, wie Russland, die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von fossilen Brennstoffen erhalten wollen. Doch die Annexion der Krim entfremdet ihm die zentralasiatischen Autokraten, die nun ebenfalls um ihre Territorien fürchten, und seine Syrien-Politik hat die Golfmonarchen gegen ihn aufgebracht. Wollte Putin, dessen Macht auf der Kontrolle der Oligarchen und der Energiewirtschaft basiert, mit Hilfe der Sanktionen eine binnenmarktorientierte Industrialisierung und Stärkung der Landwirtschaft bewirken, sollten nach mehr als zwei Jahren entsprechende Fördermaßnahmen getroffen worden sein, doch ist dies nicht der Fall.
Zweifellos dient die aggressive Außenpolitik nicht zuletzt der Festigung des »Systems Putin« im Inneren, doch bemüht sich der Präsident, sein Russland, das »Dritte Rom«, als Bollwerk des reaktionären Traditionalismus und Bündnispartner all jener im Westen darzustellen, die die liberale Demokratie ablehnen. Die Konfrontation ist politisch, hier stehen zwei kapitalistische Modelle gegeneinander: das westliche Freihandelsregime, das seinen Bürgern individuelle Freiheiten gewährt, aber auch die Lebensrisiken immer stärker privatisiert, und der rus­sische Staatskapitalismus, der seinen Bürgern als zuweilen strenger, zuweilen fürsorglicher Patriarch gegenübertritt.
Im wirklichen Leben ist dann allerdings doch alles etwas komplizierter, jedenfalls auf »westlicher« Seite. »Die grundlegende Mission der Nato ist unverändert«, wird im Abschlussdokument des Warschauer Gipfels behauptet: »zu gewährleisten, dass die Allianz eine beispiellose Gemeinschaft von Freiheit, Frieden, Sicherheit und gemeinsamen Werten bleibt, einschließlich individueller Freiheit, Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit«.
Obwohl die Präambel des Nordatlantik-Vertrags von 1949 ein vages Bekenntnis zur Demokratie enthält, war die politische Grundlage der Nato zunächst der Antikommunismus. Im Kampf gegen die Sowjetunion waren auch rechtsextreme Regimes als Bündnispartner willkommen. Mit Portugal war eine Diktatur Gründungsmitglied, die Putschisten in Griechenland (1967) und der Türkei (1980) mussten keinen Ausschluss fürchten. Die Nato hat die Demokratisierung dieser Staaten nicht hintertrieben, nachdem sie in Gang gekommen war, aber auch nie gefördert.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfiel dann der Bedarf an rechtsextremen Verbündeten, eigentlich aber auch die Existenzgrundlage der Nato. Sie diente nun der Koordination auf nationaler Ebene vereinbarter Militäreinsätze, etwa in Afghanistan, ist mittlerweile aber auch bei der Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer aktiv, die mit dem Verteidigungsauftrag nur durch die waghalsige Behauptung in Verbindung gebracht werden kann, sie habe etwas mit Terrorismusbekämpfung zu tun.
Ein Club kann nicht besser sein als seine Mitglieder. Die Orbánisierung Ungarns, die Kaczyńskiisierung Polens und die Erdoğanisierung der Türkei bleiben zwar noch hinter den russischen Verhältnissen zurück, doch entwickeln sich in diesen drei Nato-Staaten autoritäre Herrschaftsformen. Selbst wenn es in den Nato-Gremien den po­litischen Willen gäbe, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen – es fehlt an Regeln, die es ermöglichen würden, etwas zu unternehmen. Der Nato-Vertrag sieht den Ausschluss eines Mitgliedsstaats ebenso wenig vor wie Sanktionen.
So entspricht die traditionslinke Sichtweise der Nato als Schutzmacht von Generälen mit Spiegelsonnenbrillen, die das zarte Pflänzlein des Sozialismus zerstampfen, der heutigen Realität zwar nicht, als Garant der Demokratie kann das Militärbündnis aber auch nicht gelten. Vor allem in Ost­europa wird die Nato jedoch von der Mehrheit der Bevölkerung als unerlässliche Schutzmacht der bestehenden demokratischen Ordnung betrachtet. Insbesondere die baltischen Staaten könnten sich gegen einen russischen Angriff nicht allein verteidigen.
Wenn dort nun 4 000 Soldaten stationiert werden, ändert dies das mili­tärische Kräfteverhältnis kaum. Einer Studie der Rand Corporation zufolge könnten die russischen Truppen in 60 Stunden Tallinn und Riga erreichen. Die militärische Symbolpolitik soll vielmehr deutlich machen, dass ein solcher Angriff tatsächlich als »Bündnisfall« nach Artikel 5 des Nato-Vertrags gelten würde – nicht nur der russischen Regierung, sondern auch den beunruhigten Balten, die sich europäischer Hilfe nicht sicher sein können. Einer am Mittwoch vergangener Woche veröffentlichten Umfrage des Pew Research Center in acht Nato-Staaten zufolge befürwortet nur in den USA und Kanada eine absolute Mehrheit den militärischen Beistand, bei der Ablehnung führt Deutschland mit 58 Prozent, gefolgt von Frankreich (53 Prozent) und Italien (51 Prozent).
Während der Konfrontation mit der UdSSR war die passend »mad« (mutually assured destruction) abgekürzte Aussicht auf einen alles vernichtenden Atomkrieg zweifellos abschreckend. Aber wie hoch ist die Schwelle in Zeiten der hybriden und asymmetrischen Kriegführung, etwa im Fall einer russischen Kommandoaktion in Estland zur Festnahme angeblicher Terroristen? Wie würden die europäischen Regierungen sich verhalten, wenn es Kämpfe im Baltikum gäbe und eine nukleare Eskalation drohen würde?
Die Nato ist keine Wertegemeinschaft, sondern ein Bündnis, das nur so lange zusammenhält, wie es eine ausreichende Basis gemeinsamer Interessen gibt. Putin hat der Nato wieder eine Existenzberechtigung verschafft, doch haben keineswegs alle Mitgliedstaaten die gleiche Haltung zur russischen Außenpolitik; in vielen Ländern, auch in Deutschland, wird über die richtige Reaktion gestritten. Als Ergänzung oder als Alternative zur militärischen Symbolpolitik werden fast einhellig Dialog und Verhandlungen empfohlen, worunter fast immer verstanden wird, Putin zu umschmeicheln und ihm Zugeständnisse zu machen.
Doch es geht nicht um die Eitelkeit Putins oder dessen Sorge um das Prestige seines Landes. Dass er bereit ist, auch herbe ökonomische Verluste in Kauf zu nehmen, hat der russische Präsident hinreichend bewiesen. Gedeckt durch ihre Nuklearmacht wird die russische Regierung sich möglicherweise weitere militärische Provokationen leisten, es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie so weit geht, einen größeren Krieg mit der Nato zu riskieren. Dies ist überflüssig und wäre eher kontraproduktiv in einem vorwiegend politischen Konflikt, in dem die Entwicklung im Westen Putins Position begünstigt.
Den europäischen Rechtspopulisten und Rechtsextremen geht es vorgeblich allein um »Souveränität«. Verdächtig ist jedoch, dass sie einerseits die EU zerlegen wollen, die meisten von ihnen sich aber andererseits ungeachtet traditioneller rassistischer Ressentiments und historischer Feindschaft die Nuklearmacht Russland als Wunschpartner ausgesucht haben. Bedauerlicherweise bedingen es die Klassenverhältnisse, dass Bedrohungen der Eigentumsrechte immer sehr ernst genommen werden, Gefahren für die Demokratie hingegen bestenfalls dann, wenn es schon fast zu spät ist. Während in der Epoche des Antikommunismus jeder Linksnationalist, der eine Agrar­reform forderte, als Bolschewist eingestuft und entsprechend bekämpft wurde, gilt derzeit Demokratieabbau als lässliche Sünde und rechtes Ressentiment als Reaktion »besorgter Bürger«, auf die man einzugehen habe.
Man kann darüber streiten, was die russische Regierung für ihre weltpolitischen Ambitionen zu riskieren bereit ist und – der christliche Bezug setzt ideo­logische Grenzen – ob sie tatsächlich zur Führungsmacht der nichtislamischen extremen Rechten werden kann. Die Antwort auf diese Herausforderung sollte jedenfalls kein liberaler McCarthyismus sein, wohl aber eine entschiedene Verteidigung des erkämpften Standards bürgerlicher Rechte.