Das neue Verfassungsschutzgesetz in Bayern

Speerspitzel der Demokratie

Vergangene Woche verabschiedete der bayerische Landtag ein neues Verfassungsschutzgesetz. Der Geheimdienst erhält deutlich mehr Befugnisse. Geht es nach Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, soll das neue Gesetz auch als Vorbild für andere Bundesländer dienen.

Auf Vorratsdaten zugreifen, sogenannte Online-Durchsuchungen vornehmen, Wohnungen überwachen lassen – ein ganzer Wunschzettel ist erfüllt, die Stimmung im bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz dürfte prächtig sein. In der vergangenen Woche hat der Landtag ein neues Verfassungsschutzgesetz verabschiedet, das der Behörde diese und weitere Befugnisse gewährt. Allesamt Kompetenzen, die in anderen Bundesländern nur Staatsanwälte und Polizeibehörden haben.
Vor nicht allzu langer Zeit sah die Lage ganz anders aus. Nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 wurden die Verfassungsschutzämter heftig kritisiert. Je länger die Untersuchungen andauerten, desto deutlicher wurde, dass der Verfassungsschutz nicht nur unfähig gewesen war, die Mordserie zu verhindern, sondern selbst in erheblichem Maße in das Netzwerk um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verwickelt gewesen war.
Solche Vorgänge und die Versuche des Inlandsgeheimdienstes, seine Verwicklungen durch das Vernichten und Säubern von Akten zu vertuschen, führten dazu, dass nicht nur Linke seine Auflösung oder zumindest eine Beschneidung seiner Befugnisse und eine stärkere demokratische Kontrolle forderten. Der Verfassungsschutz schien delegitimiert und sein Ruf dauerhaft beschädigt. Doch im Zuge der Reform der Verfassungsschutzämter wurden diesen mehr Kompetenzen zugestanden als zuvor.
Diese Entwicklung erreicht nun in Bayern einen vorläufigen Höhepunkt. Auch im Freistaat erwies sich bereits kurz nach der Entdeckung des NSU das Vorgehen des bayerischen Verfassungsschutzes als fragwürdig. Fünf Morde ereigneten sich in dem Bundesland. In Nürnberg wurden Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar ermordet, in München Theodoros Boulgarides und Habil Kılıç. Hinzu kommt ein Sprengstoffanschlag in einer Nürnberger Gaststätte, der ebenfalls dem NSU zugerechnet wird. Dabei ist immer noch ungeklärt, wie eng der Kontakt von V-Leuten des bayerischen Verfassungsschutzes zu dem rechtsextremen Terrornetzwerk war. Klar ist hingegen, dass Geld des Verfassungsschutzes maßgeblich zum Aufbau der neonazistischen Internet-Präsenz Thule-Netz beigetragen hat. Mehr als 150 000 Euro für den technischen Betrieb des Netzes flossen vom Landesamt an einen V-Mann. Dieser hatte auch enge Verbindungen zum Thüringer Heimatschutz, in dem sich Mundlos, Bönhardt und Zschäpe betätigten.
Trotz solcher dubioser Machenschaften erhält der bayerische Verfassungsschutz bundesweit einmalige Befugnisse. Das neue Verfassungsschutzgesetz soll bereits am 1. August in Kraft treten. Neben dem Zugriff auf Daten aus der Vorratsdatenspeicherung, der Online-Durchsuchung und der Überwachung von Wohnungen sieht das Gesetz vor, dass auch bisher besonders geschützte Personen wie Journalisten und Rechtsanwälte leichter beobachtet werden können. In Zukunft dürfen auch Kinder bespitzelt werden. Bisher war es den Behörden nicht gestattet, Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren zu beobachten. »Radikalisierung ist keine Frage des Alters«, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der zusätzlich zur Gesetzesreform ankündigte, beim bayerischen Verfassungsschutz allein in diesem Jahr fast 100 zusätzliche Stellen einzurichten.
Auch die ohnehin schon geringen Möglichkeiten, den Geheimdienst zu kontrollieren, werden weiter eingeschränkt. Die Ortung von Mobiltelefonen muss dem parlamentarischen Kontrollgremium beispielsweise nur noch jährlich statt wie zuvor halb­jährlich berichtet werden. Der Einsatz von V-Leuten soll auch auf Gruppen ausgeweitet werden, von denen kein gewalttätiges Handeln ausgeht. Dabei darf der bayerische Verfassungsschutz auch auf Straftäter zurückgreifen. Das Vorgehen war zwar bereits Usus, aber noch nie so deutlich in Gesetzesform festgehalten. Mit Zustimmung des Präsidenten des Landesamtes können selbst Personen, die wegen Verbrechen wie schwerer Körperverletzung oder Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt wurden, als V-Leute angeworben werden. Nur wer wegen Mordes oder Totschlags verurteilt wurde, ist hiervon ausgeschlossen.
Das Gesetz wurde mit der parlamentarischen Mehrheit der CSU verabschiedet. »Wir bekennen uns klar zu einem starken Verfassungsschutz«, sagte Innenminister Herrmann im Landtag. Das neue Gesetz sei auch »ein klares Signal an den Bund und alle ­anderen Länder, sich diesem Vorbild anzuschließen«. Hans Reichhart, Landtagsabgeordneter der CSU und Vorsitzender der Jungen Union Bayern, teilte die Einschätzung Herrmanns: »Der Verfassungsschutz ist Speerspitze zur Verteidigung der Demokratie, erste Frontlinie im Kampf gegen den Terrorismus und Garant für die Bewahrung unserer Freiheit.«
Die Freien Wähler im Landtag ent­hielten sich in der Abstimmung. Prinzipiell zeigten sie sich zwar vom Gesetz der CSU angetan, hatten jedoch verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Bespitzelung von Anwälten. Grüne und SPD hingegen kritisierten das neue Gesetz scharf. Für die Rechtspolitikerin Katharina Schulze (Grüne) ist es völlig unverständlich, dass die CSU-Mehrheit die Kontrollbefugnisse des Landtags weiter einschränkt. Derzeit prüfen die Grünen eine Klage vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof. »Das CSU-Gesetz zeigt, dass man nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat«, sagte Schulze mit Blick auf die Verbrechen des NSU. »Wir brauchen eine umfassende Reform des Verfassungsschutzes, dazu gehört auch die Abschaltung aller V-Leute. Denn auch V-Leute im rechtsextremen Bereich bleiben Rechtsextreme.«
Ähnlich äußerte sich der SPD-Rechtspolitiker Franz Schindler, der dem bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss vorgesessen hatte. »Der Einsatz von V-Leuten hat nicht zu mehr Sicherheit geführt, sondern oft dazu, dass V-Leute die zu beobachtende Szene erst hochgepäppelt haben. Wir haben ja erlebt, dass das, was verdeckte Ermittler bekämpfen hätten sollen, von ihnen zunächst einmal aufgebaut wurde«, stellte er fest. Eine Gefahr sah er zudem in der Möglichkeit des Verfassungsschutzes, auf die Vorratsdaten zuzugreifen. »Die CSU streicht einfach das Trennungsgebot, also die Regelung, dass Polizei und Verfassungsschutz unterschiedliche Aufgaben und Befugnisse haben und organisatorisch nicht zusammengefasst werden dürfen«, so Schindler.
Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Opposition kümmerten die CSU jedoch wenig. »Wir gehen in der Tat an die Grenze dessen, was im Rechtsstaat erlaubt ist«, sagte Herrmann. Dies sei aber »zum Schutz der Freiheit und Sicherheit« notwendig. ­Dabei berief sich Herrmann auf den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD). Auch dieser sei bereit gewesen, im Interesse der Sicherheit an die Grenze zu gehen. Das gelte auch für die CSU.