Die internationale Terrorstrategie und das politische Programm des »Islamischen Staats« im Nahen Osten

Das Kalifat im Windschatten

Die Siegesmeldungen über den »Islamischen Staat« häufen sich auch angesichts der Terroranschläge während der letzten Wochen. Ob der Untergang des selbsternannten Kalifats tatsächlich bevorsteht oder es nur einen Strategiewechsel vollzieht, ist unklar.

Den größten Sieg des »Islamischen Staats« (IS) kann man in einer Artikelüberschrift der Welt von Anfang Januar nachlesen. »Anti-IS-Kampf braucht militärische Anstrengung wie vor 1945«, heißt es da. Der Vergleich der Anti-Hitler-Koalition, der immerhin die Rote Armee und die US-Armee angehörten, und ihres Gegners, der Wehrmacht, mit einer Gruppierung, die über ein paar Tausend hauptsächlich leichtbewaffnete Kämpfer verfügt, wäre absurd – hätte der IS nicht tatsächlich einen gewaltigen Sieg errungen, weltweit in den Köpfen der Menschen. Von Anfang an hat ein inszenierter und aufgebauter Mythos einem realistischen Blick auf das »Kalifat« und die Bedingungen seiner Existenz verschleiert.
Wie erfolgreich beim IS Medien- und Terrorstrategie zusammenfließen, hat sich in der jüngsten Anschlagskampagne während des Ramadan erneut gezeigt. Die Tatorte lagen über den Globus verstreut, von Orlando über Bagdad bis Dhaka und Medina. Die Niederlage des Kalifats im symbolisch wichtigen Falluja, das von irakischen Truppen und schiitischen Milizen vergleichsweise schnell erobert wurde, erhielt dadurch entschieden weniger mediale Aufmerksamkeit. Allerdings ist die Virtualität der Medienwelt und die Panik, die der IS durch Terror scheinbar grenzenlos und ungehindert stimulieren kann, eine Sache, die militärische Realität eine andere. Der Vormarsch in das Gebiet des Kalifats in den vergangenen Monaten ist beeindruckend: Der IS hat mittlerweile im Irak rund 50 Prozent seines Territoriums verloren und 20 Prozent in Syrien, wie der IS-Experte und Autor Hassan Hassan in der New York Times berichtet. Die Fläche des Kalifats hat sich von der Großbritanniens auf die Griechenlands verringert. Hassan hat auch auf eine weitere beeindruckende Zahl hingewiesen: Am 3. Juli hatte der IS nach seiner Zählung genau 666 Selbstmordanschläge seit November durchgeführt – also in acht Monaten. Die Selbstmordanschläge haben im vergangenen halben Jahr deutlich zugenommen, täglich sprengen sich zwei bis drei IS-Kämpfer in die Luft, der bisherige Höhepunkt lag im März mit 112 Selbstmordattentätern. Solche Zahlen sind schwierig zu interpretieren – sind sie Anzeichen von Auflösung und letzter Verzweiflung oder möglicherweise von unbändigem Siegeswillen? So oder so bleibt das bemerkenswerte Faktum, dass die Organisation offensichtlich über eine hohe Zahl fanatisierter Kämpfer verfügt, deren umstandslose und massenhafte Opferung als Fahrer von mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugen Teil der alltäglichen militärischen Routine ist. Das ist verstörend – und damit sind wir auch wieder beim Mythos angelangt.
Ein Angehöriger der Führungsgruppe des IS, Abu Mohammed al-Adnani, hatte kurz vor Ende des Ramadan zu Attacken in den USA oder Europa aufgerufen. Eine recht erfolgreiche Strategie. Alleine die Angst vor einem Anschlag bei der Fußball-Europameisterschft in Frankreich hat das Sportereignis und seine Rezeption verändert. Dieser Aufruf an Borderliner weltweit, individuelle Terrorakte unter dem Label des Kalifats zu begehen, zeigt die internationale Strategie des Kalifats: Terror in seiner puren Form, unkontrollierbar, unvorhersehbar und völlig wahllos, um Angst und Unsicherheit zu erzeugen und Gesellschaften zu polarisieren.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Im Nahen Osten hat der IS tatsächlich eine Art politisches Programm. Ein bloß militärisches Problem war der Kampf gegen das Kalifat auch deswegen nie – allerdings wird von der Koalition gegen den IS, die die Amerikaner organisiert haben, gerne so getan, als sei es das. Ein genauer Blick auf die Politik des IS wirft nämlich zwangsläufig unangenehme Fragen auf, etwa nach der opportunistischen Haltung des Westens zu Bashar al-Assad und der iranischen Machtpolitik.
Das Kalifat konnte nur im Windschatten des Krieges in Syrien wachsen und gedeihen. Und es wird Zulauf bekommen, solange das Assad-Regime in Damaskus herrscht und der Iran versucht, seine Dominanz über weite Teile des arabischen Nahen Ostens militärisch aufrechtzuerhalten. Auch die derzeitige humanitäre und militärische Katastrophe, die sich mit der Belagerung des von den Rebellen gehaltenen Teils von Aleppo abzeichnet, wird erneut das auf den Nahen Osten bezogene Hauptnarrativ der IS-Propaganda unterstützen: dass nur das Kalifat in der Lage sei, die Sunniten vor der völligen Marginalisierung und letztlich ihrer Vernichtung in der Region zu bewahren.
Ein dauerhafter Sieg über das Kalifat läßt sich nicht durch die Eroberung von Wüstenterritorium und halbzerbombten Städten erringen. Er müsste das Problem der politischen Repräsentanz und Einbindung der Sunniten in die mittlerweile vom Iran kontrollierten Länder Irak, Syrien und Libanon lösen.
Das Problem des iranischen Herrschaftsanspruchs liegt im Umstand begründet, dass die Sunniten die Bevölkerungsmehrheit in der Gesamtregion stellen, eine Herrschaftsstabilisierung im Nahen Osten historisch aber immer nur durch die Ausgrenzung und Vernichtungsdrohung gegenüber großen oder kleinen Minderheiten funktioniert hat. Man kann nun, wie Assad und seine Verbündeten, versuchen, die Demographie durch die Erzeugung von hohen Flüchtlingszahlen zu ändern – mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist mittlerweile von Flucht und Vertreibung betroffen. Das sind in der Mehrzahl Sunniten. Aber um so die eigene Herrschaft zu zementieren, müssten noch ein paar Millionen Menschen mehr vertrieben werden – nur wohin? Auch der US-amerikanische Versuch, den IS in Syrien mit der kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD) und im Irak mit Hilfe von schiitischen Milizen beizukommen, wird scheitern. Militärisch kann man dem Kalifat so zwar Gebiete wegnehmen, die dauerhafte Kontrolle dieser Gebiete aber ist eine andere Frage, und sie ist einfacher zu lösen, je mehr sunnitische Bewohner geflüchtet sind. Und hier beginnt das Problem wieder von vorne.
Das weiß auch der IS. Dessen Sprecher al-Adnani versuchte bereits, den voraussehbaren militärischen Erfolg der Anti-IS-Koalition im Vorhinein zu relativieren: »Denkst du, Amerika, dass Niederlage gleichbedeutend mit dem Verlust von Städten oder Gebietsherrschaft ist?« Er erinnerte an eine un­angenehme historische Tatsache, nämlich dass die Vorläuferorganisation des Kalifats, al-Qaida im Irak, schon einmal, 2010, für besiegt erklärt worden war. Die letzten Kämpfer hatten sich in die irakische Wüste zurückziehen müssen – nur um 2014 in einem einzigen Sturmlauf zur Verblüffung der ganzen Welt Mossul und weite Gebiete des Nordirak einzunehmen. Viel spricht nun dafür, dass sich die Organisation auf eine erneute Metamorphose vorbereitet. Auch die individualisierten weltweiten Terroranschläge wie in Nizza am französischen Nationalfei­ertag sind ein Hinweis darauf. Dafür braucht man keinen »Kalifatsterrito­rium« mehr, aber einen Nimbus. Die Irren, die man braucht, um die Terrordrohung einzulösen, werden sich überall einfinden – auch in Regionalzügen der Bundesbahn.
Man mag sich ausmalen, wie ein im Januar abtretender Barack Obama nach einer möglichen Rückeroberung von Raqqa oder gar Mossul noch ver­suchen wird, das als Sieg über das Kalifat zu verkaufen. Dabei legt der US-amerikanische Präsident mit seinem Vorhaben, gemeinsam mit den Russen in Syrien zu agieren, gerade die Grundlagen für eine erfolgreiche Zukunft der Kalifatskämpfer. Russland liegt weniger an der Bekämpfung des Kalifats als an der Schwächung des ­syrischen al-Qaida-Ablegers Jabhat al-Nusra. Diese Jihadisten kämpfen nämlich im Gegensatz zum IS gegen Assad. Das Ergebnis der russisch-amerikanischen Zusammenarbeit ist unschwer vorauszusehen: So wie Obama im Irak die US-Luftwaffe zur Hilfstruppe der iranischen Revolutionsgarde gemacht hat, wird sie demnächst de facto für Assad bomben. Ein praktischeres Geschenk wird man den Islamisten diverser Couleur kaum machen können. Und was nach dem ganz großen Sieg über das Kalifat passieren wird? Dann ruft al-Qaida im syrischen Idlib das nächste aus.