Der italienische Dokumentarfilm »Seefeuer«

Im Rausch der Empathie

Für seinen Dokumentarfilm »Seefeuer« drehte der italienische Regisseur Gianfranco Rosi auf Lampedusa. Politische Antworten gibt er nicht.

Im September 2015 wurde die Leiche des zweijährigen Aylan Kurdi am Strand in der Nähe der türkischen Stadt Bodrum gefunden. Das Foto, das eine Journalistin von dem toten Jungen machte, wurde als Beleg für die Macht dokumentarischer Bilder gedeutet, denen gelingen kann, was Zahlen in diesem Fall nicht vermochten. Monatelang berichteten die Medien über Tausende Menschen, die auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertranken, aber es brauchte erst ein Bild, um das Publikum auch emotional zu erreichen.
Vermutlich meint Gianfranco Rosi etwas Ähnliches, wenn er sagt, sein Dokumentarfilm »Seefeuer« solle die »Grenzen des Geistes« einreißen. Über ein Jahr drehte der Regisseur auf Lampedusa, dem ersten Ziel der Flüchtlinge, die den Kanal von Sizilien Richtung Europa durchqueren. Ein Textinsert zu Beginn des Films erinnert die Zuschauer, dass schätzungsweise 15 000 Menschen auf dieser Route ums Leben gekommen sind.
Haupt- und Identifikationsfigur des Films ist der zwölfjährige Samuele, der mit seinem Vater und seiner Großmutter auf Lampedusa lebt. Rosi, der auch die Kamera führt, zeigt ihn spielend in der kargen Natur, beim Lernen von Vokabeln und während des Gesprächs mit seinem Vater. Samuele will Fischer werden wie sein Vater, aber auf See wird ihm übel. Er versucht, seinen Magen abzuhärten, trainiert auf dem schwankenden Bootssteg und rudert wacker in einem Bötchen durch das Hafenbecken von Lampedusa.
Währenddessen werden Flüchtlinge vor der Küste aus überfüllten Booten geholt, untersucht, ins Innere der Insel gebracht und registriert. Details sickern durch: Das Benzin-Meerwasser-Gemisch, das die Kleidung während der Überfahrt durchtränkt, führt zu schweren Verätzungen auf der Haut; eine Frau hat entbunden, während das Boot gesunken ist.
Gianfranco Rosi lässt trotz der niederschmetternden Thematik kurze Momente der Erleichterung und Hoffnung zu: Wenn die zweite Hauptfigur des Films, der Arzt Pietro ­Bartolo, der sich um die erste Untersuchung der Flüchtlinge kümmert, einer schwangeren Frau, deren Sprache er nicht spricht, zu erklären versucht, dass es ihren Zwillingen gutgehe; oder wenn Flüchtlinge aus ­Nigeria ihre Geschichte singend erzählen und kurz den Eindruck ent­stehen lassen, sie seien davongekommen.
Die auf den ersten Blick mit all diesen Geschehnissen unverbundenen Szenen mit Samuele sind metaphorisch aufgeladen. Auf die Schärfung der Wahrnehmung wird angespielt, wenn Samuele eine Augenklappe verschrieben bekommt, die seine Sehkraft wieder stärken soll. Und wenn er über Atembeschwerden klagt, die als angstinduziert diagnos­tiziert werden, legt das ganze Setting von »Seefeuer« nahe, an die Angst der Europäer vor dem Flüchtlingszustrom zu denken. Das Kind als Iden­tifikationsfigur – für den Zuschauer eine ebenso entlastende wie leicht einnehmbare Position.
Der spielerische Umgang mit audiovisueller Symbolik ist der eine ­Aspekt, den Film bestimmt. Der andere ist die Langsamkeit. Die Kamera ruht weitgehend bewegungslos auf dem Geschehen, und diese Ruhe unterläuft das Spektakelpotential der Bilder. Auch mit ausgestellter Spontaneität hat Rosis Verständnis des Dokumentarfilms nichts gemein. Die langen Sequenzen wirken sorgfältig komponiert, tableauhaft, das Licht fällt perfekt abgestimmt auf die Szenerie. Wenn es stimmt, dass sich in der Kameraeinstellung immer auch eine Einstellung zum Gefilmten manifestiert, geht es hier um den Versuch, den Zuschauer in einem vorgeblich neutralen Gestus zum Zeugen werden zu lassen. Am Ende richtet sich die Kamera auf die Körper der Flüchtlinge, die es nicht geschafft haben und sterben werden. Unerbittlich: Schau, im Unterdeck ist es ­besonders heiß, schau, da ist jemand dehydriert, schau, da liegt jemand und stirbt.
Er habe sich im Schneideraum gefragt, ob er diese Bilder überhaupt zeigen könne, hat Rosi in Interviews gesagt. Erklären musste er sein Unbehagen niemandem. In einer Szene fragt der Arzt Bartolo: »Wie kann man sich an tote Kinder gewöhnen?« Die Frage ist nicht rhetorisch gemeint. Die Macht der Bilder besteht auch darin, dem Betrachter im Schockmoment den Schrecken schon wieder abzugewöhnen.
Die Gewöhnung an Schreckens­bilder versucht »Seefeuer« dem Zuschauer dennoch auf ambivalente Weise zu erschweren. Das Kino kann, mit Siegfried Kracauer gesprochen, eine verborgene Wirklichkeit freilegen und Geschehnisse darstellen, die zu grausam sind, um sie in unvermittelter Form zu betrachten. Und es errichtet, im selben Zug, eine Barriere zur Welt, die den Zuschauer vor ihren Zumutungen schützt: Das englische Wort screen bedeutet Leinwand und Abschirmung gleichermaßen.
Diese Doppelfunktion zeigt sich an einem Film wie »Seefeuer« besonders deutlich. Auch wenn die Bilder Emotionen ausgelöst haben, die Komfortzone des Kinogängers ist mit ästhetischen Mitteln allein nicht zu zerstören. Als humanistischer Appell ließ sich »Seefeuer« reibungslos ins Programm der Berlinale integrieren. Deren Jury erklärte den Film zum »Herzstück« des Festivals und verlieh ihm den Goldenen Bären.
»Seefeuer« hat das Potential, den Zuschauer in Kontakt mit einem Leiden zu bringen, dessen mediale Präsenz gegenwärtig wieder abnimmt. Bleibt zu hoffen, dass die Zuschauer es nicht dabei bewenden lassen, sich von ihrer eigenen Empathiefähigkeit berauschen zu lassen. Die Frage muss lauten: Welche Instanzen sind dafür verantwortlich, dass die Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer gestorben sind, nicht einfach in ein Flugzeug nach Europa steigen durften?
Seefeuer (I/F 2016). Regie: Gianfranco Rosi. Filmstart: 28. Juli