bleibt nach dem Klassenkampf? Über »Linkssein« heute

Links ist da, wo der Daumen rechts ist

Angesichts der Erfolge rechter Bewegungen in Europa mehren sich in der Linken Stimmen, die mehr Populismus fordern, vom national­staatlichen Ordnungsprinzip träumen und bereit sind liberale Zugewinne an individueller Freiheit zur Disposition zu stellen.

Was ist nur mit der Linken los? Diese Frage beschäftigt nicht nur Charlotte Wiedemann, die in der Taz konstatierte: »Die Utopisten von heute sind nicht wir, sondern jene, die aus purer Not handeln – oder von rechts kommen.« Damit meinte sie die durch ihre bloße Existenz Fakten schaffenden Flüchtlinge und die prosperierenden rechten Bewegungen Europas, die ihre Stärke zuletzt im »Brexit« unter Beweis stellen konnten. Doch woher rührt der utopistische Mangel? Folgt man den unlängst im Interview mit Zeit Campus formulierten Thesen von Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, liegt es am linken Nachwuchs, der sich nur noch »kosmopolitisch« um »kulturelle oder identitätspolitische« Themen kümmere und sich nicht für Verteilungsfragen interessiere.
Nun mag man die ewigen Debatten über »richtiges« Essverhalten, immer ausdifferenzierteres Gendern und bizarre Akronyme für sexuelle Präferenzen durchaus für wenig geeignet halten, um die sogenannten einfachen Leute zu erreichen. Ob nun aber Jakob Augsteins via Spiegel Online herausposaunte Forderung nach mehr linkem Populismus der richtige Weg ist, darf ebenfalls bezweifelt werden. Denn Populismus gleich welchen Vorzeichens bedeutet letztlich immer – Sahra Wagenknecht hat es vorexerziert und dafür die berechtigte Torte empfangen – die Affirmation autoritär-nationaler Positionen. Der Nationalstaat aber ist definitiv tot, auch wenn derzeit nahezu überall in Europa rechtsextreme Frankensteine in bürgerlicher Camouflage ihm zu grotesken postmortalen Zuckungen verhelfen.
Gleich ob wir über Ökologie reden, über Verteilungsgerechtigkeit oder Krieg und Frieden – nahezu allen Themen wohnt heute eine globale Perspektive inne, die berücksichtigt werden muss, sofern man ernsthaft daran interessiert ist, Probleme zu lösen. Leider gibt es keine wirkungsvolle und schon gar keine demokratische politische Ebene, auf der diese im Kern unumkehrbare Globalisierung verhandelt werden könnte. Während die EU wenigstens noch ein parlamentarisches Mäntelchen trägt, sind alle globalen Prozesse offen dem Primat der Ökonomie unterstellt, dessen Mechanismen die Steuerungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Regierungen in einem noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbaren Ausmaß beschränken. Infolgedessen regieren auch auf nationaler Ebene nicht mehr Parteien, sondern ökonomische »Alternativlosigkeit«, die sich stetig weiter manifestiert in der Privatisierung staatlicher Verantwortungsbereiche (und damit auch Liegenschafts- und Kapitalreserven), der Verabschiedung eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung in eine gerade mal das Existenzminimum sichernde Grund­versorgung und in der beständigen Ausweitung prekärer Selbstständigkeiten.
Man könnte denken, all diese abgehängten oder von prekären Lebensverhältnissen gebeutelten Menschen bildeten einen ausreichenden Nährboden für eine starke Linke. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall. Es profitieren Autokraten und neue rechte Parteien, deren Wirtschaftsprogramme oft keinerlei Hinweis darauf geben, dass es ihnen um eine Umverteilung von oben nach unten ginge. Abgesehen von seinen restriktiven Funktionen der Bevölkerung gegenüber (Verbote aller Art und deren Durchsetzung mittels Überwachung, Zensur und Polizeigewalt) erscheint der Staat an sich beispielsweise im Programm der AfD als eine Art finsteres sozialistisches Relikt. Gestärkt werden soll nur die Nation, »das Volk« als herbeiphantasierte ethnische Einheit – gegen Migration, Feminismus oder queere Lebensweisen. Und genau diese Haltung treibt ihnen die Wähler zu. Insofern es also tatsächlich die Abgehängten und Prekären der Gesellschaft sind (und man unzulässigerweise die bürgerliche Klientel ausblendet), die den Aufstieg der neuen Rechten befördern, muss wohl konstatiert werden, dass diese bereit sind, das sie ausgrenzende neoliberale Paradigma zu akzeptieren, wenn man ihnen nur auf anderer Ebene ein Spielfeld ausgrenzender Gemeinschaftlichkeit verschafft, auf dem sie sich als Sieger fühlen können – weil sie weiß sind, deutsch und heterosexuell. Wenn dies nun aber der vorherrschende Diskurs bei den Abgehängten ist, welche Optionen bleiben dann der Linken?
Internationalismus mit anderen Mitteln
Die Antwort, so einfach sie klingt, ist schwer umzusetzen: Die Linke braucht eine globale Perspektive, die über ihren traditionellen »Internationalismus« hinausreicht, der sich gemeinhin auf Solidarität mit nationalen sozialistischen Experimenten beschränkt. Diese Experimente enden im globalisierten Kapitalismus fast zwangsläufig in wirtschaftlichem Desaster und bizarren Partnerschaften mit rechten Diktaturen oder islamfaschistischen Regimen ­enden, wie bei den »Bruderstaaten« (Hugo Chávez) Venezuela und Iran. Diesen »Internationalismus«, der stets bereit ist, autokratische Regime ins Herz zu schließen, sofern sie sich irgendwie in Opposition zum »US-Imperialismus« befinden (der auf einer inzwischen wohl linksmetaphysisch zu nennenden Ebene mit dem Kapitalismus an sich gleichgesetzt wird), egal, wie neoliberal deren Wirtschaft strukturiert ist, wie sie mit Pressefreiheit und Oppositionellen umgehen oder wie es in ihnen um die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten bestellt ist.
Theoretisch unterfüttert wird diese Haltung am linken Stammtisch gern mit der These vom Hauptwiderspruch mit seinen Nebenwidersprüchen, die in dieser Vulgärfassung bedeuten soll, dass wir uns um derlei Fragen nicht kümmern brauchen, weil sie sich von selbst erledigen, wenn erst mal die Sache mit Lohnarbeit und Kapital geregelt ist. Nur leider sieht es gerade nicht danach aus, als ob diese sich demnächst im marxistischen Sinne regeln würde, ganz gleich in wie vielen linken Blogs so gebetsmühlenartig von »Spätkapitalismus«, »Klassenstandpunkt« und »Klassenkampf« schwadroniert wird, als könne man den Begriffen durch stete Wiederholung neue Relevanz verschaffen.
Dummerweise ist den meisten Leuten heutzutage völlig unklar, zu welcher Klasse sie in diesem Modell eigentlich gehören. Da mag der Angestellte mit Reihenhäuschen und mehreren Autos vor der Tür rein theoretisch immer noch zum Proletariat zählen. Allein, er sieht sich – zu Recht – als Profiteur des Systems, der materiell viel zu verlieren, aber wenig zu gewinnen hat. Und die wachsende Menge der Prekären hat nachvollziehbare Schwierigkeiten, praktische Solidarität mit Arbeitskämpfen zu üben, bei den es um Wochenarbeitszeiten oder Tarifhöhen geht, von denen sie nur träumen können, während sich im ­Gegenzug keine der Gewerkschaften ernsthaft für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände einsetzt.
Grundwiderspruch und individuelle Freiheit
Junge Linke, die sich oft schon während ihres Studiums in der Gruppe der Prekären wiederfinden (hier hat Wolfgang Merkel recht), verorten sich eher global oder zumindest europäisch und setzen somit Zustände am deutschen Arbeitsmarkt immer auch in internationale Relation. Die Solidarität etwa mit Flüchtlingen oder prekären jungen Spaniern fällt ihnen daher leichter als mit deutschen Angestellten, die für ein paar Euro mehr streiken. Zudem gibt es einen grundlegenden Widerspruch zwischen ihnen und der traditionellen Linken: Während letztere gemeinhin stets bereit ist, im Sinne des Grundwiderspruchs die Freiheit des einzelnen für die Gleichheit aller zu opfern, wissen die »identitätspolitisch« (also emanzipatorisch) Engagierten die durch den westlichen Liberalismus gewonnenen Freiheiten nicht nur zu schätzen, sie erkennen auch die drängende Notwendigkeit, sie gegen das völkisch-nationalen Rollback zu verteidigen. Dass sie dabei zuweilen in den Ruch der Affirmation neoliberaler Politik geraten, ist der Tatsache geschuldet, dass es keine öffentlich wahrnehmbare emanzipatorische Kraft gibt, die sich glaubwürdig gegen den Siegeszug der diversen Spielarten des autoritären Chauvinismus stellt, zu denen der Islamismus von Erdoğan bis zum IS ebenso gehört wie all die Putins, Orbáns, Petrys und Le Pens.
Dabei böte der Kampf um emanzipatorische Freiheitsrechte durchaus eine globale linke Perspektive, auf die sich aufbauen ließe. Die traditionelle Linke aber setzt, mangels neuer Ideen, lieber weiter auf den Nationalstaat als Ordnungssystem und ist international über die Phrase von der »Völkerfreundschaft« kaum hinausgekommen. So freut man sich dann schon mal über den nationalistisch motivierten »Brexit« und blickt voller Neid auf die Massenwirkung rechter Bewegungen. Ja, im fatalen Irrglauben, diesem »Volk« gehe es vielleicht ja doch um verteilungspolitische Fragen, und frei nach dem Motto: »Links ist, wo der Daumen rechts ist«, sind Teile der Linken längst bereit, emanzipatorische Errungenschaften bourgeoisen Ballast über Bord zu werfen und die Solidarität mit den Flüchtlingen aufzukündigen, um sich mit Querfrontrhetorik dem neuen Trend anzudienen. Davon abgesehen, dass derlei Versuche in der Regel erfolglos bleiben, weil der rassistisch-homophobe Mob durchaus in der Lage ist, zwischen Original und Kopie zu unterscheiden – das Label »links« ist für derlei populistische Strategien wohl deutlich weniger angebracht als die eine oder andere wohlplatzierte Torte.