Reaktionen auf den »Brexit« in den Niederlanden. Teil 2 einer Serie

Mehr Nation, weniger Europa

Ein Referendum zum EU-Austritt wird es in den Niederlanden vorläufig nicht geben. Die Idee eines »Nexit« geistert trotzdem bereits seit Jahren durchs Land. Zweiter Teil einer Serie über die Reaktionen auf das britische EU-Referendum.

Für die Tweede Kamer, das niederländische Parlament in Den Haag, ist die Sache klar. Nur knapp zehn Prozent der 150 Abgeordneten waren Ende Juni der Meinung, dass die Bevölkerung über einen Austritt aus der EU abstimmen sollte. Eingebracht hatte den Antrag gleich nach dem britischen EU-Referendum Geert Wilders, der Vorsitzende der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV). Wilders, international für seine antiislamische Agenda bekannt, plädiert seit längerem dafür, dass die Niederlande aus der EU austreten. Wegen der Ablehnung des Parlaments allerdings ist dieser Schritt mittelfristig nicht zu erwarten.
Bei der Bevölkerung des Landes gestalten sich die Verhältnisse anders. Kurz vor dem britischen Referendum sprachen sich in einer Umfrage 54 Prozent der Befragten für eine entsprechende Abstimmung in den Niederlanden aus. 48 Prozent von ihnen würden für einen Austritt votieren, 45 Prozent dagegen. Bei verschiedenen Erhebungen Ende Juni gaben zwischen 33 und 54 Prozent an, ein Referendum zu befürworten. Zwischen 22 und 48 Prozent davon wären für einen Austritt. Inzwischen hat das Hickhack um den britischen Abschied auf der anderen Kanalseite offenbar seine Spuren hinterlassen. Der Meinungsforscher Maurice de Hond konstatiert für Anfang Juli, dass nun 52 Prozent seiner Befragten einen sogenannten Nexit ablehnen.
Eine Schlussfolgerung lässt sich hinsichtlich des niederländischen Verhältnisses zur EU ziehen, und zwar unabhängig von jeweils aktuellen Zustimmungwerten für einen EU-Austritt: Das Thema ist so relevant wie kontrovers – und das nicht erst seit den britischen Kampagnen dieses Frühjahrs. 2005 lehnten die Niederländer per Referendum die europäische Verfassung ab. 2008 ratifizierte das Parlament ohne erneute Befragung der Bevölkerung den Lissaboner Vertrag. Seither ist das, was man zuvor als »Demokratiedefizit der EU« bezeichnete, ebenso wie die zunehmende Integration der Mitgliedstaaten und die vermeintliche »Einmischungssucht« Europas (ein populäres Schlagwort niederländischer EU-Kritiker) Dauerthema der öffentlichen Debatte.
Dabei geht es nicht zwingend um einen Abschied des Landes von Europa, sondern eher um die EU als Referenzpunkt der Politik. Was zuletzt etwa die Socialistische Partij (SP) deutlich machte, neben der PVV die euroskeptischste politische Kraft und Protagonistin der »Nee«-Kampagne 2005 gegen die EU-Verfassung. Derzeit fordert sie eine Abstimmung über den Einfluss »Brüssels« und dessen Begrenzung. Die SP will die EU-Kommission abschaffen zugunsten der nationalen Parlamente, die unter anderem die alleinige Zuständigkeit in Haushaltsfragen bekommen sollen. Bei einem niederländischen EU-Austritt, so der Europaabgeordnete der SP, Dennis de Jong, verschwände hingegen die Chance zur Gestaltung eines sozialeren Europa.
»Es gibt keine Mehrheit für den Nexit, wohl aber eine für ›weniger Brüssel‹«, bringt es Geert Meun, Generalsekretär des niederländischen Fischereidachverbands Visned, auf den Punkt. Meun beschäftigt sich zurzeit mit den Folgen eines Austritts Großbritanniens für die Nordsee-Fischerei. Unter niederländischen Fischern sei die EU wegen ihrer Regulierungen nicht beliebt, zugleich aber sei man sich der Vorzüge bewusst, in dänischen oder deutschen Häfen die Ladung löschen und von dort gleich per LKW weitertransportieren zu können. Eine Save-Our-Fish-Kampagne wie in Großbritannien sei daher in den Niederlanden nicht zu erwarten.
Bei den Parlamentswahlen im kommenden März dürfte das Verhältnis zur EU ein wichtiges Thema werden. Dafür spricht zum einen, dass die PVV seit einem Jahr in den Umfragen vorneliegt – zeitweise mit deutlichem Vorsprung. Die Vergangenheit zeigt, dass dies über den Wahlausgang noch nicht allzuviel aussagt. Zweifellos aber wird die PVV sich bemühen, ihre Themen zu platzieren. Die eingangs erwähnte Diskrepanz zwischen Parteien und Bevölkerung in der »Nexit«-Frage ist dafür eine günstige Ausgangslage. Bereits 2013 verkündete Geert Wilders gemeinsam mit Marine Le Pen die künftige Zusammenarbeit von FN und PVV zur »Befreiung von der europäischen Elite«. Die Bildung der angestrebten Fraktion misslang nach den Europawahlen 2014 zunächst, konnte ein Jahr später aber als »Europe of Nations and Freedom« (ENF) realisiert werden.
Unbestritten verdreht ein beträchtlicher Teil der niederländischen Bevölkerung angesichts der Forderung von Wilders nach einem EU-Austritt höchstens die Augen. Das Schlagwort »Nexit« wirkt allerdings bis heute, wie die Wortspielereien mancher Journalisten über einen »Tschexit« oder »Frexit« zeigen. Inhaltlich haben Wilders und Le Pen für einen Paradigmenwechsel gesorgt: In einer Zeit, als Europa über den »Grexit« diskutierte, transformierten sie einen möglichen EU-Austritt von einer Strafmaßnahme zur selbstgewählten Entscheidung im Zuge einer nationalstaatlichen Restauration.
Zusätzliche Brisanz erhält das niederländische Verhältnis zur EU noch durch eine andere Frage. Im April lehnte die Mehrheit der Teilnehmer eines Referendums den EU-Assoziationsvertrag mit der Ukraine ab. Hinter dem Referendum standen im Übrigen nicht die PVV oder die SP, sondern konservative Think Tanks und EU-kritische Organisationen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte versucht derzeit, mit den EU-Partnern eine Änderung des Vertrags zu erreichen.
Für Rutte ist dies ein Spagat. Einerseits gibt er sich, nicht zuletzt im Hinblick auf die anstehenden Wahlen, entschlossen, die Interessen der Vertragsgegner zu vertreten. Andererseits ist die EU-Mitgliedschaft der Niederlande für ihn unverhandelbar. Eine Lage, die an diejenige David Camerons zu Jahresbeginn erinnert.