Repression gegen soziale Proteste in Kolumbien

Geister und Knäste

In der Euphorie über den Waffenstillstand zwischen der Regierung und der Guerilla Farc in Kolumbien geht unter, dass derzeit ein neues Polizeigesetz vorbereitet wird, das die Kriminalisierung von sozialem Protest fördern könnte.

Drei Menschenleben kostete der paro agrario, der landesweite Streik der Kleinbauern in Kolumbien (Jungle World 27/2016). Alle drei Opfer gehen auf das Konto der Sonderpolizei ESMAD, die vor allem zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird. Die Befugnisse dieser und anderer Polizeieinheiten in Kolumbien könnten mit der Novelle des Polizeigesetzes erweitert werden. Dem Rechtsanwalt Álvaro Giraldo zufolge untergrabe dieses Vorhaben teilweise in der Verfassung fixierte Rechte der Bürger. Er arbeitet seit 2008 für das Solidaritätskomitee für politische Gefangene (CSPP), eine NGO, die 1973 dank einer großzügigen Spende des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez gegründet werden konnte. Sie hält den Kontakt zu politischen Gefangenen, bietet juristische Hilfe an und berichtet über die Zustände in kolumbianischen Haftanstalten.
Kolumbiens Gefängnisse sind in der Regel überbelegt, oftmals veraltet und zum Teil nicht einmal ursprünglich als Gefängnisse konzipiert worden. Das gibt die nationale Gefängnisverwaltung (INPEC) auch offen zu. So hat beispielsweise »La Modelo«, ein im Zentrum Bogotás liegendes Gefängnis, in den 56 Jahren seit seiner Einweihung immer wieder Schlagzeilen wegen diverser Probleme gemacht; dazu gehören Ausbrüche, Gefängnismassaker, die Koordination von Straftaten aus dem Gefängnis heraus sowie das Verschwinden von Häftlingen. Inhaftierte paramilitärische Kämpfer hätten zwischen 1999 und 2001 bis zu 400 Menschen in der Haftanstalt ermordet, sagte etwa der Ermittlungsleiter der Staatsanwaltschaft, Julián Quintana, jüngst auf einer Pressekonferenz. Unterhalb von »La Modelo« soll es ein Netz von Tunneln geben, das gibt auch Laureano Villamizar zu, der ehemalige Leiter der INPEC. Das hätte längst zur Schließung der Haftanstalt führen müssen. Auch eine Reihe anderer Gefängnisse, die mit zwei- oder dreimal so vielen Häftlingen wie vorgesehen belegt sind und deren Bauweise längst nicht mehr den Anforderungen entspricht, müssten längst geschlossen sein.
Ein Beispiel dafür ist das Gefängnis »Villa Hermosa« in Cali, das regelmäßig von Rechtsanwalt Giraldo und seiner Kollegin Katherine Rendón Fernández besucht wird. »Hier haben wir es mit einer Überbelegung von 274 Prozent zu tun. Es gibt keine Privatsphäre, die Häftlinge schlafen auf den Gängen, zu zehnt in einer Vier-Mann-Zelle«, so der Jurist. Ein Grund für die Überbelegung ist, dass von den derzeit rund 121 300 Häftlingen in Kolumbien nur 76 500 bereits verurteilt wurden, die restlichen 44 500 warten in Untersuchungshaft auf ihr Urteil. »Oft über zwei, drei Jahre«, sagt Giraldo.
Verantwortlich für die langen Wartezeiten sind Defizite im Justizsystem, wo überlastete Richter oft nicht hinterherkommen und vermeintlich unwichtige Fälle auf die lange Bank geschoben werden. Das können Drogendelikte sein oder Eigentumsdelikte, für die das Gros der Häftlinge verurteilt werde, so Giraldo. »Die Situation in den Gefängnissen spiegelt letztlich die sozialen Konflikte in Kolumbien wieder. Auf die wird mit immer härteren Strafen reagiert«, so der Jurist, der in Cali lebt. Die kolumbianische Regierung setzt auf Abschreckung, dafür stehen die Erhöhung von Strafzumessungen sowie die anstehende Reform des Polizeigesetzes. »Sollte die Vorlage das Parlament passieren, können Polizisten ohne richterliche Genehmigung Privathäuser betreten, Verdächtige verhaften, sie zwölf Stunden festhalten, ohne sich rechtfertigen zu müssen, und willkürlich Platzverweise gegen ambulante Händler verhängen, um ein modernes Stadtbild zu erzeugen«, fasst Giraldo die Folgen zusammen.
Die Novelle bedeutet auch eine weitere Kriminalisierung sozialer Proteste, wie sie von den Behörden bereits betrieben wird. Ein Beispiel dafür ist das repressive Vorgehen vor allem gegen indigene Demonstrierende während des Agrarstreiks, aber auch die Kriminalisierung ihrer Repräsentanten. So wurde etwa Feliciano Valencia zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der Vertreter der indigenen Gruppe der Nasa, deren Angehörige unter anderem im Verwaltungsbezirk Cauca leben und dort sehr gut organisiert sind, wurde wegen der Entführung und Körperverletzung des Unteroffiziers Jairo Danielo Chaparral im September vergangenen Jahres verurteilt. Am 14. Oktober 2008 war der bewaffnete und mit einem Funkgerät ausgerüstete Unteroffizier auf dem Weg zu einer minga, einer indigenen Versammlung, von der indigenen Po­lizei, der Guardia Indígena, aufgegriffen worden. Diese verdächtigte Chaparral als Spion, er wurde einige Tage festgehalten und von einem indigenen Rat zu 20 Stockschlägen auf die Füße verurteilt, des Weiteren musste er ein Kräuterbad nehmen, um seinen »Geist zu reinigen«. Die Guardia Indígena hat Polizeigewalt in den resguardos, den indigenen Territorien – dort gilt auch die indigene Justiz.
Viele indigene Gruppen Kolumbiens kritisierten nicht nur das hohe Strafmaß gegen Valencia, sondern auch, dass die indigene Rechtsprechung von den staatlichen Richtern nicht anerkannt worden sei. Auch wenn die körperliche Züchtigung von Menschenrechtsanwälten nicht gut geheißen wird, kritisieren sie das Strafmaß gegen Valencia als unangemessen. Es diene offensichtlich der Kriminalisierung des Protests der Nasa, die unter anderem für Landrechte kämpfen. Gegen die Inhaftierung Valencias wehrten sich die indigenen Organisationen mit der Unterstützung von Menschenrechtsanwälten. Im Mai 2016 wurde er schließlich aus der Haft entlassen, aber sein Fall steht exemplarisch für die Kriminalisierung sozialer Proteste in Kolumbien. Gegen kritische Gewerkschafter und Vertreter linker Organisationen und afrokolumbianischer oder indigener Gemeinden ermitteln immer wieder die Behörden. »Das hat genauso Tradition wie das Ausspionieren von Linken durch den Geheimdienst«, kritisiert Katherine Rendón Fernández, ihr Kollege Giraldo nickt zustimmend.
Derzeit wird in Kolumbien wie international vor allem die Unterzeichung des Friedensabkommens zwischen der Regierung und der Guerilla Farc gefeiert, doch gerade für die Zeit nach dem Friedensschluss ist die Frage der Befugnisse der Ordnungskräfte und des Umgangs mit Gefangenen besonders relevant. Sicherheit für die Kommandanten der Farc zu garantieren, werde eine zentrale Herausforderung sein, denn zum einen habe sich an der sozialen Misere Kolumbiens nichts geändert, zum anderen seien die paramilitärischen Gruppen nach wie vor eine ernste Bedrohung, so die beiden Juristen vom CSPP. Das zeigt unter anderem das Beispiel »La Modelo«. Riskant sei die Situation in Kolumbiens Gefängnissen aber nicht nur wegen der von organisierter Kriminalität und paramilitärischen Gruppen ausgehenden Gewalt, sondern auch wegen der schlechten Versorgung und der oft fehlenden Gesundheitsversorgung, sagt Rendón Fernández. »Für Resozialisierung stehen gerade einmal 0,5 Prozent des Budgets zur Verfügung«, so die ­Juristin. Für Nahrungsmittel veranschlagen die Behörden umgerechnet 2,40 Euro pro Kopf und Tag. Wer im Gefängnis krank wird, sei auf die Familie angewiesen, »es gibt nicht einmal einen Notdienst, denn die Gesundheitsversorgung wurde privatisiert«, so Rendón Fernández.