AKP-Anhänger gehen »für Demokratie« auf die Straße

Demonstrative Einigkeit

Nach dem gescheiterten Putschversuch wird die Repression auf Journalistinnen und Journalisten ausgeweitet. Auf den Straßen von Istanbul demonstrieren derweil die Anhänger der autoritären AKP-Regierung gemeinsam mit Vertretern der Oppositionspartei CHP für Demokratie und gegen die Gülen-Bewegung.

Wehende Fahnen und strahlende Gesichter. Auf dem Taksim-Platz prangt ein riesiges rotes Plakat auf dem ehemaligen Atatürk-Kulturpalast: »Die Macht hat das Volk«. Davor skandiert eine begeisterte Menge Parolen. Alt und Jung sind dabei, viele Kinder schwenken Fahnen in der Hand, ein Vierjähriger stolziert in einer Uniform der türkischen Streitkräfte über den Platz. Die Atmosphäre hat etwas von einem Volksfest. Auf die Frage, ob er Wasser verkaufe, reicht ein Polizist in Zivil einer jungen Frau in einem langen Mantel mit Kopftuch eine Flasche aus der Großpackung für die Ordnungskräfte, die in Uniform und Zivil den Platz ­sichern, und sagt: »Nimm, Schwester, heute verschenken wir welches.« Jeden Abend veranstalten Anhänger der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) Treffen auf allen öffentlichen Plätzen Istanbuls. Zentral ist der allabendliche Aufmarsch auf dem Taksim-Platz. Die Parolen der Redner, die auf zwei riesigen LED-Bildschirmen zu sehen sind, stechen von der fröhlichen Stimmung ab. Die Stimme des Sängers Suat Suna, bekannt durch schwülstige Liebeslieder, tönt über den Platz: »Wo sind sie denn, die Künstler vom Gezi-Park? Wir sind ja angeblich keine, sondern nur die Speichellecker des Präsidentenpalastes.« Er grinst in die Menge, bevor er losbrüllt: »Bis in den Tod stehe ich hinter meinem Staat, hinter meiner Fahne und hinter Tayyip Erdoğan.« Die Menge jauchzt und johlt. Als Oberbürgermeister Kadir Topbaş sich auf der Bühne über die Weicheier lustig macht, die den Gedanken nicht ertrügen, dass bereits Friedhöfe für die Gräber der hinzurichtenden Vaterlandsverräter angelegt würden, buht es laut über den Taksim-Platz. »Mahnwache für die Demokratie« heißen die nächtlichen Veranstaltungen, die für die einen der Siegeszug und für die anderen ein Albtraum sind.
Gleich um die Ecke liegt die Szenebar Muaf, die während der Gezi-Proteste als Krankenstation für die mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln traktierten Demonstranten diente. Der Fotograf Ahmet Özkan* trinkt erschöpft ein Bier. Seit einer Woche fotografiert er jede Nacht für ein durch die Gezi-Proteste berühmt gewordenes Fotografenkollektiv. »In der Putsch­nacht war ich auf der asiatischen Seite in Üsküdar. Ich bin von dort aus bis zur Brücke gelaufen«, erzählt er. Präsident Erdoğan hatte eine SMS an alle Benutzer einer türkischen Sim-Karte geschickt: »Besetzt die öffentlichen Plätze und sorgt dafür, dass die Demokratie sich durchsetzt.« Auch die Muezzins riefen von den Moscheen aus die Bürger auf, sich gegen die Putschisten zu erheben. Ahmet wurde vor der Bosporus-Brücke von Polizisten gewarnt, die Soldaten hätten Schießbefehl. Dennoch sah er mit an, wie die Polizei andere erregte Bürger gezielt auf die Brücke schickte. Etwa 240 Menschen starben in jener Nacht in der Türkei.
Seither überschlagen sich die Ereignisse. Präsident Erdoğan hat für drei Monate den Ausnahmezustand verhängt. Die staatlichen Ordnungskräfte dürfen Verdächtige ohne Begründung festnehmen und für 30 Tage festhalten. Die Putschisten werden als Anhänger des in Amerika lebenden Islamistenführers Fethullah Gülen bezeichnet. Seit dem Putschversuch wurden rund 60 000 Soldaten, Polizisten, Beamte und Lehrer suspendiert; mehr als 13 000 Menschen wurden festgenommen, knapp 6 000 davon befinden sich der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge in Untersuchungshaft. Die türkischen Medien sind derzeit fast gleichgeschaltet. Tag und Nacht diskutieren Experten über »FETHÖ«, das sogenannte Terrornetz des Fethullah Gülen. Viele der oppositionellen Medien haben kein Problem mit dieser Erklärung, denn die Fethullah-Gülen-Verschwörung ist eine bereits seit den achtziger Jahren von den Kemalisten propagierte Theorie. Demnach soll der ehemalige Nahost-Beauftragte der CİA, Graham Fuller, einen Kolonialisierungsplan für den Nahen Osten entworfen haben mit dem Ziel, die dortige Wirtschaft zu kontrollieren. Vornehmlich tolerante Is­lamisten sollten in diesen Ländern unterstützt werden, um insgeheim die Islamisierung voranzutreiben und den Staatsapparat zu infiltrieren. Zur gegebenen Zeit seien diese Schläfer auch abrufbar, um Terror zu schüren und die jeweiligen Regierungen zu destabilisieren, um der sogenannten internationalen Gemeinschaft Gründe zu liefern, zu intervenieren. »Wir haben es schon immer gewusst«, sagt Kemal V., ein Weinhändler im Istanbuler Viertel Beyoğlu, der ein passionierter Anhänger der Republikanischen Volkspartei (CHP) ist. »Im Nahen Osten passiert nichts ohne die Mitwirkung der CIA.« Fotograf Ahmet bezahlt eine Flasche Narince-Traube und verdreht vor der Ladentür die Augen. »Unser größtes Problem ist«, seufzt er, »dass viele Leute die Verantwortung für diktatorische Entwicklungen nie in den eigenen Strukturen suchen. Die CHP hat vor der Wahl Abdullah Güls zum Staats­präsidenten noch im damals von den Kemalisten kontrolliertem Fernsehen offen einen Putsch gefordert. Heute sind sie die größten Putschgegner.«
Emine G.* schrieb bis März für die englische Ausgabe von Zaman. Die Tageszeitung war jahrelang das Sprachrohr der Gülen-Bewegung. Das Verlagsgebäude von Zaman wurde im März von der Polizei gestürmt und die Chefredaktion festgenommen. Mittlerweile untersteht die Führung von Redaktion und Verlag richterlich bestellten regierungsnahen Managern, die Zeitung berichtet in diesen Tagen linientreu. »Gülen hat seine Strategie nie verheimlicht, die eigenen Anhänger in den Staatsapparat einzuschleusen«, sagt Emine G. Sie selbst ist islamisch-konservativ, aber keine Absolventin einer Gülen-Schule. Bis zum Putsch unterhielt die Bewegung ein Netzwerk aus Schulen, das die Anhänger im rechten Glauben, aber auch in Mathematik und Physik schulte und vielen den Aufstieg in gehobene Positionen ermöglichte. Die Gülen-Anhänger im Polizeiapparat lieferten der AKP in den vergangenen Jahren eine Vielzahl halbwahrer und halbgefälschter Beweise, um die gegen die AKP gerichteten ­Teile des Militärs in Schauprozessen zu entsorgen. »Viele Leute, nicht nur die Islamisch-Konservativen, haben sich über die Entmachtung der Generäle gefreut«, sagt Emine G.
Erst als die Gülen-Bewegung nach dem Verbot einiger ihrer Schulen im Dezember 2013 einen Korruptionsskandal im engsten Kreis von Präsident Erdoğan lostrat, brach ein offener Kampf aus. »Ich habe mich lange Zeit bei Zaman wohl gefühlt, weil die Zeitung plötzlich oppositionell wurde und ich dort solidarische Artikel zur Gezi-Bewegung schreiben durfte.« Emine G. hat Glück, ihre Familie steht dem früheren Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu nah und so ist sie nicht von der zurzeit grassierenden Verhaftungswelle betroffen. Der frühere Online-Chef der Tageszeitung, Bülent Mumay, twitterte am 25. Juli ein Foto seines Presseausweises und beteuerte, dass er noch nie einer Organisation angehört habe. Er gehört zu den 41 Journalisten, denen die türkische Staatsanwaltschaft vorwirft, den Putsch unterstützt zu haben. Mumay hatte seinen Job verloren, weil er sich nicht an das von der Regierung verhängte Veröffentlichungsverbot über die Umstände des Bombenanschlags in Ankara direkt vor den Parlamentswahlen im Oktober 2015 gehalten hatte. Hürriyet Online hatte dazu getwittert: »Wahlkampf in der Türkei.« Das macht Mumay jetzt zum Ziel der Verhaftungswelle, denn die der türkischen Regierung vorgeworfene Unterstützung islamistischer Gruppen in Syrien und dem Irak gilt nun natürlich als Werk von FETHÖ und Mumay als einer von dessen Propagandisten. Emine G. lächelt müde. Auch viele ihrer ehemaligen Kollegen stehen auf der Liste. »Seit dem Militärputsch von 1980 hat FETHÖ angeblich alle politischen Morde in der Türkei gelenkt, die Kurdenkrise verursacht und den »Islamischen Staat« heimlich aufgebaut und unterstützt.«
Alle Oppositionsparteien haben den Putsch unmittelbar nach dem 15. Juli verurteilt. Dennoch sind nur die kemalistische CHP und die ultranationalis­tische MHP Teil der großen Koalition für die Demokratie, die Erdoğan gerade proklamiert hat. Die prokurdische HDP protestierte am Samstag alleine im Viertel Sultangazi gegen den Ausnahmezustand. Die CHP forderte Demokratie auf dem Taksim-Platz innerhalb der Kulisse der AKP-Propaganda-Veranstaltungen. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu verteilte fleißig Hochglanzbände mit dem Titel: »Minute für Minute. Der versuchte Putsch des Fethullah-Terrornetzes« an die Demonstranten. Eine unglückliche Koalition mit dem bitteren Beigeschmack der Diktatur.
* Name von der Redaktion geändert.