Zwischen Panik und Pathologie. Der Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Jihadismus und dessen politische Folgen

Amok, Jihad, CSU

Im sicherheitspolitischen Umgang mit dem Jihadismus zeigt sich die bürgerliche Gesellschaft bereit, rechtsstaatliche Errungenschaften aufzukündigen.

Mohammed stellte seine Proselyten vor eine simple Wahl. Wer einige wenige Regeln befolgte, dem versprach er Eroberungen, Reichtum und das ewige Paradies. Wer aber seinen »sichtbaren Zeichen« nicht glaubte, den würde Allah mit Unterwerfung im Diesseits und Höllenstrafen im Jenseits verfolgen. Ein Sonderangebot, das nur ein Verrückter ausschlagen kann. Und doch verlachten die Ungläubigen Mohammed (Koran 83:30) erklärten ihn zum »Bessessenen« (Koran 52:29).
Als von Geistern besessenes Medium aber wollte er, der in seiner Höhle Erzengel channelte, partout nicht gelten. Mit der riskanten, aber erfolgreichen militärischen Expansion konnte er, was wenigen Geistmedien gelang, den stigmatisierten Wahn in ­akzeptiertes Prophetentum verwandeln und damit ­vergesellschaften. Die Opferbereiten wurden tatsächlich belohnt. Auch wenn die islamischen Gesellschaften ganze Bibliotheken schrieben, um für Realpolitik unbequeme Passagen des Koran mittels der Aufhebungstheologie zu neutralisieren, blieb mit dem Urtext ein Projektionsangebot bestehen, das immer wieder angenommen ­wurde.
500 Jahre nach Mohammeds Tod ­eroberten die Assassinen die Burg Masyaf im syrischen Homs. Vom neuen Hauptsitz aus wollten sie einen islamischen Staat auf koranischer Grundlage errichten. Gefürchtet wurden ihre Kämpfer, die Fedayin (»die sich Opfernden«), weil sie sogar die gegnerischen Leibgarden unterwanderten und als Schläfer ihre Zielpersonen auf Befehl hin mit dem Dolch töteten. Für wahnsinnig hielt man die Fedayin, weil es ihnen als unehrenhaft galt, das Attentat selbst zu überleben.
Fast 800 Jahre später erklärten Briten einen somalischen Warlord, Muhammad Abdullah Hassan, zum »Mad Mullah«. Auch dieser Salafist wollte zu einem puristischen, koranischen Staat ohne sufistischen Aberglauben zurück. Seine Massaker in dem von 1900 bis 1920 Jahre dauernden Guerillakrieg gegen die Briten am Horn von Afrika führten dazu, dass sich selbst sein Lehrer in Mekka, Mohammed Salih, von ihm distanzierte. Die positivistischen Briten vermuteten noch hinter dem Wahnsinn Methode: Er sei Teil einer deutschen Achse – ein Mythos, wie sich später herausstellte.
Außenstehende können den Wunsch, mit dem Opfer des eigenen Lebens den koranischen Expansionsstaat auf Erden und das Paradies zu erkaufen, nicht anders denn als Irrsinn einsortieren. Das unter anderem in Sure 4:68 verordnete jihadistische Triebschicksal aber nur als Wahn der anderen zu begreifen, verdrängt den Wahn im bürgerlichen Egoismus. Dessen Prinzip ist das Gebet an den heiligen Sankt Florian: »Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!«
Abgesehen vom Bündnisfall Afghanistan intervenierte Deutschland nicht und rechnete darauf, im Gegenzug von Anschlägen verschont zu bleiben. Dass bei den Anschlägen in Istanbul und in Abijan dieses Jahr Deutsche unter den Todesopfern waren, verbuchte die Politik als Risikotourismus: Niemand forderte Konsequenzen. Der Angriff auf ein Sikh-Gebetshaus in Essen im Mai wurde von der deutschen Presse irritiert durchgewinkt. Das war, wie auch der rechte Terror gegen Nichtdeutsche, ein Problem anderer Leute.
Die Radikalisierung der CDU/CSU
Mit Würzburg und Ansbach aber sei es zum »ersten IS-Anschlag in Deutschland« gekommen, so titelten viele Zeitungen und plötzlich regen sich Emo­tionen in den teilnahmslosen Bürgern. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gab nach dem Selbstmordattentat in Ansbach Bild zufolge zu Protokoll: »Das ist ungeheuerlich, dass jemand menschenverachtend Asylrecht missbraucht.« Der syrische Kriegsversehrte erhielt aber lediglich deshalb kein Asyl in Deutschland, weil man Bulgarien zuständig sah – ein Land, in dem Flüchtende Erniedrigung und Abschiebung in den Tod erwartet. Der Täter hat eine ganze Anzahl von Rechten anderer verletzt, aber nicht das Asylrecht. Ihm primär den »Missbrauch des Asylrechts« vorzuwerfen, ist zu guten Teilen Projektion des eigenen kalten Kalküls. Nach den Anschlägen forderte die CSU den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, Abschiebungen in Kriegsgebiete, »Transitzentren« an den Grenzen, die Innenraumüberwachung staatlicher Unterkünfte und natürlich die Aufkündigung des Schengen-Abkommens. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer brüstete sich mit der Irrationalität der Maßnahmen: »Besonnenheit ist wichtig, aber den Schutz durch den Staat ersetzt sie nicht.« Wie dem »Islamischen Staat« (IS) gelten auch der CSU die Anschläge als Beweis der eigenen Überlegenheit: »Wir haben mit allen unseren Prophezeihungen Recht bekommen, besonders in der Sicherheitspolitik.« (Focus Online, 26. Juli) Während derzeit 8 000 Schüler auf einen Schulpsychologen kommen, ein psychologisch fundiertes Profiling von potentiellen Terroristen ebenso wie der Ausbau der Traumapsychologie ausbleibt, erklärte der bayerische Justizminister Winfried Bausback »Nur Sozialromantiker können davon ausgehen, dass mehr Psychologen helfen.«
Die von Eitelkeit und Realitätsverlust geprägten Phrasen bereiten die Gesellschaft auf die fortschreitende Radikalisierung der CDU/CSU vor. Da auf absehbare Zeit weitere Terroranschläge geschehen könnten, führt diese Eskalation hin zur Forderung nach der Todesstrafe, die ihr vorläufiges Reservat in der »Abschiebung in Krisengebiete« erobert hat.
Anschlag auf das Asylrecht
Eine solche Eskalation lässt sich auch an den Kommentaren nach dem Anschlag in Würzburg ablesen. Es war für Unbeteiligte schwer vorstellbar, dass ein guter SEK-Schütze mit einer Handfeuerwaffe frontal von einem Axthieb überrascht werden könnte. Die offene Frage, die Renate Künast twitterte und die für so große Empörung sorgte – warum der Attentäter nicht handlungsunfähig geschossen wurde, um ihn vernehmen und bestrafen zu können – ist auch die erste, die der bürgerliche Rechtsstaat stellt und die nach polizeilichen Schüssen mit Todesfolge in einem Pflichtverfahren zu klären ist. Später wurde die Aussage der Polizisten veröffentlicht. Der Täter stürmte demnach überraschend auf zwei Polizisten aus einem Gebüsch zu und zwang sie zum suicide by cop – ein glaubhaftes Szenario, das mit einem ballistischen Gutachten auch bewiesen werden könnte. Der für den Fall zuständige Oberstaatsanwalt Bardo Backert äußerte aber blankes Unverständnis über jegliche Möglichkeit eines Zweifels an der Aussage der Polizisten.
Über Künast ergoss sich indessen undifferenzierter Spott in Foren und Zeitungen. In der allgemeinen Abwehr ihrer Frage artikulierte sich ein Ressentiment gegen das Tötungsverbot. Der Todesschuss galt als legitim, nicht weil die Notwehr eindeutig belegt war, sondern weil es gegen einen Terroristen ging. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei gab den Ton vor, in dem das Problem »Todesschuss« offenbar polizeiintern verhandelt wird: »Da brauchen wir die parlamentarischen Klugscheißer überhaupt nicht.« Seine gezielte Beleidigung bringt eine tiefe Verachtung für Parlamentarismus und Intellektualismus zum Ausdruck, die unwidersprochen blieb.
Künast legte den Finger auf die Wunde im sicherheitspolitischen Umgang mit dem Jihadismus: die für selbstverständlich gehaltene Bereitschaft zur Abschaffung rechtsstaatlicher Errungenschaften. Luftkriege gegen den IS macht keine Gefangenen mehr. Der bürgerliche Egoismus rechnet sich die Kosten wirksamer Interventionen aus und gelangt zum Schluss, dass Drohnen und Luftangriffe bei den Wählern besser ankommen als boots on the ground, die die lokale Bevölkerung schützen könnten. Auch ihr gegenüber hat man alle Skrupel verloren. Die nordrheinwestfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) jubelte der Abschottung mit massenhafter Todesfolge zu, sie sei »froh, dass die Grenzen erstmal dicht sind«. Solche Bewusstseinstrübungen und die langfristige Erosion von moralischen Hemmschwellen erzeugten das gereizte Klima, in dem die bloße Frage nach den Voraussetzungen für den Todesschuss schon als »Klugscheißerei« gilt.
Die Islamisten spüren, wie dünn der zivilisatorische Firnis über dem gesellschaftlich als unverkorkste, vernünftige Staatsgewalt rationalisierten Wahn ist. Ihr Wahn wäre schlechter rationalisierbar, wenn er bei seinen bürgerlichen Antagonisten keine Aussicht auf Erfolg hätte. Böses Einverständnis herrscht zwischen IS und bürgerlicher Gesellschaft darüber, dass es immer noch schlimmer geht.
Den Anschlägen in Würzburg und Ansbach folgt ohne jedwede Ratio ein weiterer Anschlag der CSU auf das Asylrecht, auf Zehntausende Unschuldige. Traumatisierte Flüchtlinge, die das Todesrennen durch Wüsten, Gebirge, Mittelmeer und Nato-Draht überleben, will man in noch tristeren Lagern, tendenziell in Gefängnissen halten, bis über ihren Antrag entschieden sei. Die bürgerliche Kälte ist dabei nur Schein. Sadistische Gelüste sprechen aus jedem Kommentar der gegen Merkel feixenden Propagandisten. Sie wollen wie die ­Jihadisten Kontrolle statt Verständnis, Unterdrückung statt Aufklärung, Vernichtung statt Sublimierung. Dass man den eigenen Narzissmus nur durch die Demütigung anderer sichern könne, das lehrt der Koran, das lehrt die CSU-Propaganda, das lehrt aber auch jedes Assessment-Center, in dem man Solidarität gegen Ausbeutung vollständig durch Teamfähigkeit zur Förderung der Ausbeutung ersetzt. Jörn Schulz verweist auf diese Wesensverwandtschaft: »Bei der Suche nach ­Einzeltätern lässt sich anfangs kaum unterscheiden, ob ein zuvor aufsässiger, oft kleinkrimineller junger Mann sich nun fit für den Markt oder das Selbstmordattentat macht.« (Jungle World 29/2016)
Der Jihadismus und die Angst der anderen
Die im neoliberalen Klima gedeihenden Shooter und der Jihadismus stehen sich so nah, dass eine Verschmelzung beider Phänomene erwartbar war. Bereits 2009 fand in Ansbach ein Amoklauf eines 18jährigen Schülers statt, der die Apokalypse erwartete.Auch die Phantasie der männlichen School-Shooter in den USA kreist meist um sozialdarwinistische, manichäische Er­lösungsphantasien. Sie sehen sich als richtende Götter.
Amok und Jihad lassen sich daher ohne einen Begriff von Perversion nicht verstehen. Das Hochgefühl der Perversion ist der Triumph über die Kastrationsangst. Im Moment der größten Unruhe und Verstörung, etwa bei der Urszene oder während des Erblickens des weiblichen, als kastriert wahrgenommenen Genitals, stellt sich ein Ersatzangebot her: Der Nylonstrumpf, der Fuß, der Urin, Geruch, Schmerz, Einverleibung oder Vernichtung des Bedrohlichen ermöglichen die Abspaltung der Lust von der Angst. Die meisten dieser Fetische bleiben harmlos und jede Sexualität trägt Zeichen ­einer fetischistischen Wahl, der Verschiebung von ödipalem Begehren auf Ersatzobjekte, von Partialtrieben auf Genitalität. Maligner Narzissmus geht allerdings nach Otto Kernberg häufig mit Perversionen einher, die lebensbedrohliche Autoaggression in den Dienst sadistischer Überich-Vorläufer stellen.
Wenn im Jihadismus die Geschlechtsliebe im Diesseits mit ihrem scheinbaren Gegenteil, dem Tod, verschmolzen wird, entsteht die gründlichste vorstellbare Perversion: Die Einheit von Sexualität und Tod. Vom Bewusstsein einer solchen Möglichkeit zeugt der Satz vom Orgasmus als petite mort. Jeder Nervenkitzel trägt Spuren solcher Einheit. Quantitativ gesteigert entstehen allerdings – auch ohne bindende Ideologie – grauenhafte Zerrbilder der Sexualität wie in jener Fallvignette Kernbergs: »Zum Beispiel masturbierte ein Patient Anfang zwanzig (…) auf Hausdächern, während er mit Ziegelsteinen auf Frauen warf, die unten auf der Straße vorbeigingen.« Ebenso ernährt sich der Jihadismus von der Angst der anderen, vom Terror. Er liefert jedoch eine bindende Ideologie, ein universales Angebot. Auch sein Hochgefühl erklärt sich daraus, dass man der eigenen Kastrationsangst ein Schnippchen schlägt und letztlich der deprimierenden Strafe für die Tat durch den manischen Selbstmord entgeht.
Wie andere Perverse sehen die Jihadisten darin eine »geniale«, der Geni­talität intellektuell überlegene Lösung. Die »Shaheeds« und die »Jihadis« lächeln selig, entrückt, freudig erregt, wenn sie sich in ihren Bekennervideos von dem Anschlag oder mit den ab­geschnittenen Köpfen ihrer Opfer präsentieren. In solcher (Selbst-)Vernichtung verschwinden die störenden Grenzen zwischen Täter, Opfer und Gott – eine von Ruth Stein als transzendentes Liebesgefühl umschriebene Ekstase stellt sich ein.
Der ideologische Wahn, selbst wenn er noch so gehärtet ist, bleibt dann nur die Rationalisierung und Vergesellschaftlichung dieser Perversion, die den instabilen Narzissmus normaler Jugendlicher ebenso wie Amokläufer mit klaren psychiatrischen Symptomen auf der ganzen Welt anspricht. Dass sich solcher um den Sadismus organisierten Wahn Gehör verschaffen will, liegt auch daran, dass er es kann. Wer behauptet, die israelischen Juden würden einen Genozid in Gaza planen, darf sich seines Publikums ebenso sicher sein wie jemand, der unter dem Hashtag #whitegenocide behauptet, Merkel wolle mit Hilfe der Einwanderung die Weißen auslöschen.
Vernünftig klingt, was machbar ist. Und am allereinfachsten »machbar« ist der Tod, dessen fetischisierte Faktizität die Rationalisierung erleichtert. Ebenso verstärkend wirkt die objektive Rationalität des Selbstmordattentates. US-Truppen flohen 1983 aus dem Libanon, Spanien zog nach den Anschlägen von Madrid seine Truppen aus dem Irak zurück. Die Jihadisten wissen, dass der Westen in Syrien aus Angst vor Selbstmordattentaten nicht interveniert. Ein Gutteil ihrer Manie speist sich aus dem Wissen um die Schwierigkeit einer realitätsgerechten, depres­siven Position zum Terror, wie sie die israelische Gesellschaft gefunden hat.
Die manische Reaktion der CSU hingegen verhindert auch die Wahrnehmung depressiver Aspekte spezifischer Täter. Sie gelten ausschließlich als Irre, die nur vernichtet werden können. Der vermeintlich hartgesottene Jihadist von Ansbach versuchte offenbar zweimal, sich zu suizidieren. Seine Psychotherapie musste er aufgrund bürokratischer Vorgänge abbrechen. Dass er zwei Jahre in der Duldung gehalten wurde, einem Zustand psychischer Folter, ist Ergebnis der weltfremden Politik von CDU/CSU.
Psychologie wird von ihr auch deshalb als Bedrohung empfunden, weil sie der Pathologie des Anderen bis ins Eigene folgen könnte.