Professionell deformieren

Lehrerinsein ist nicht gesund, das sagen alle. Man bekommt Migräne und Burn-out und Alkoholismus, zieht sich seltsam an, hat Mundgeruch und kann anderen Menschen nicht mehr zuhören, weil man selbst ununterbrochen irgendetwas erklären muss – es ist schon schwierig. Man bemerkt das dann auch alles nicht mehr, man läuft herum, ist total krank und keiner sagt einem Bescheid, weil alle ja wissen, dass man Lehrerin ist, also ohnehin praktisch schon tot.
Aber manchmal bemerkt man selbst es dann doch noch. Ich zum Beispiel letztens, als dieser demokratisch gewählte humorfreie Paranoiker die ganzen Menschen suspendieren, festnehmen und einige vielleicht foltern ließ und von Todesstrafe sprach und man das alles sehr ausführlich in der deutschen Berichterstattung verfolgen konnte. Da dachte ich, dass es vermutlich überhaupt nicht gesund ist, vielleicht sogar ein ganz klein wenig zynisch, und jedenfalls auf eine extraschlimme déformation professionelle hinweist, wenn dieses ganze Geschehen hauptsächlich Überlegungen darüber auslöst, welche Probleme nun wieder im Klassenraum entstehen.
Darüber, wie gut sich die ganzen kleinen Erdoğan-Anhänger, die ihr Profil in der Whatsapp-Gruppe jetzt mit türkischen Nationalsymbolen oder gleich mit Bildern des türkischen Präsidenten versehen, wohl weiterhin mit, sagen wir, Yusuf verstehen, der letztens durch die Mediathek lief und einen Atlas suchte, in dem Kurdistan verzeichnet ist, um Nour beweisen zu können, dass es das Land wirklich gibt. Oder eben mit Nour, deren Cousin im Mittelmeer ertrunken ist und die sich im Pausengespräch unzufrieden gezeigt hat über die Art, wie die Türkei die dort gestrandeten Flüchtlinge behandelt. Oder mit Esra, der weil ihre Eltern Aleviten sind und Alkohol an Kartoffeldeutsche verscheuern, sowieso schon gelegentlich attestiert wurde, keine richtige Muslimin zu sein.
Das läuft alles schon seit zwei Jahren so vor sich hin und bisher haben sie es immer hinbekommen, notfalls, indem Fatma einmal laut in den Klassenraum brüllt: »Leute, Religion! Wir lassen das zu Hause, das wisst ihr doch!« Ich bin sehr froh, dass Fatma doch noch versetzt worden ist, aber wie lange funktioniert das noch, wenn sie älter werden und bemerken, dass es nicht nur um Religion geht, wenn Menschen sterben, und sie die Schuld daran ganz unterschiedlichen Personengruppen zuschreiben?
Wenn man déformation professionelle googelt, weil man nicht genau weiß, welche Sorte Strich da über welches »e« kommt, autoergänzt Google übrigens »déformation professionelle Lehrer«. Vielleicht ja nur deswegen, weil Angehörige anderer Berufsgruppen das einfach »Macke« nennen. Oder nur Wörter verwenden, von denen sie auch wissen, wie sie geschrieben werden.