Die Reaktionen auf den »Brexit« in Polen. Teil vier einer Serie

Wenn der Partner sich verabschiedet

Die polnische Regierung wettert zwar gegen die EU-Bürokratie, ein Austritt aus der Union ist für sie derzeit aber undenkbar. Der EU-Austritt Großbritanniens wird Polen politisch und ökonomisch stark belasten. Teil 4 einer Serie über die Reaktionen auf das britische EU-Referendum.

Wer nach dem britischen Referendum über den EU-Austritt Ende Juni schrille EU-skeptischen Reaktionen aus Polen erwartete, sah sich getäuscht: Regierung, Opposition und zivilgesellschaftliche Gruppen reagierten unisono mit Bedauern auf die Entscheidung der Briten, die EU verlassen zu wollen. Gleichzeitig stellte keines der politischen Lager die EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes in Frage. Diese einstimmige Haltung ist das Resultat der vielfältigen Bindung Polens an Großbritannien und die EU.
Die nationalkonservative Regierungspartei PiS verliert mit dem Vereinigten Königreich einen wichtigen Verbündeten, den Außenminister Witold Was­zczykowski noch Anfang des Jahres als ersten »strategischen Partner« Polens in der EU bezeichnete. Ein gemeinsames Ziel beider Länder war es, den deutsch-französischen Bemühungen um eine Vertiefung der EU-Integration den Entwurf eines Europa der »souveränen Nationalstaaten« entgegenzustellen. Insbesondere in der Diskussion um eine einheitliche Asylpolitik zeigte sich die Ablehnung einer gesamteuropäischen Lösung durch Polen und Großbritannien deutlich. Unterstützung ­bekamen beide Länder dabei von anderen Staaten der sogenannten Visegrád-Gruppe, Ungarn, Tschechien und der Slowakei – eine starke EU-skeptische Achse schien möglich. Dass die polnische Regierung in diesem Zusammenhang bereit war, als Gegenleistung für den Verbleib Großbritanniens in der EU die Kürzung von Sozialbeihilfen für EU-Ausländer durch die Regierung David Camerons zu akzeptieren, zeigt, welche Bedeutung sie der Partnerschaft zuschrieb.
Denn auch auf der Ebene der EU-Institutionen existieren für Polen bedeutsame Verbindungen zwischen beiden Regierungen. Die britischen Tories und die polnische PiS sind im Europarlament Mitglieder der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der auch die AfD angehörte. Im laufenden Prüfverfahren zur Lage des Rechtsstaats in Polen (Jungle World 23/2016) ist die polnische Regierung auf Rückendeckung durch andere Staaten und deren Regierungsparteien bei Abstimmungen im Europaparlament und dem Europäischen Rat angewiesen. Mit dem erwartbaren Rückzug Großbritanniens aus beiden Institutionen verliert die PiS um Ministerpräsidentin Beata Szydło und den Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński die Unterstützung eines wichtigen Partnerlandes, das den innenpolitischen Umbau Polens nach ungarischem Vorbild zumindest tolerierte.
In der Folge des britischen EU-Austritts ist zu erwarten, dass die polnische Regierung notgedrungen die Flucht nach vorn antritt und noch aktiver versucht, ihre eigenen Vorstellungen zur Umgestaltung der EU mehrheitsfähig zu machen. In der sich innereuropäisch entwickelnden Debatte um die Vertiefung oder den Rückbau der EU könnten die Visegrád-Staaten mit der Unterstützung weiterer Länder wie Bulgarien, Slowenien und auch Österreich tatsächlich eine starke Verhandlungsposition einnehmen, solange es ihnen ­gelingt, eine gemeinsame Linie zu finden. Bei den Themen Grenzsicherung und Asylpolitik ist ein solcher breiter Konsens schon in Reichweite.
Gleichzeitig gilt es, die liberal-konservative Opposition in die Schranken zu weisen, die sich ihrerseits erhofft, dass die PiS nun zur Annäherung an Deutschland und Frankreich gezwungen wird. Die beiden früheren Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski und Bronisław Komorowski forderten in Hinblick darauf bereits eine Kehrtwende, überraschenderweise schloss sich ihnen auch der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, an. Angesichts dieser proeuropäischen Stimmen hat die Kampagne der PiS-Regierung gegen das »bürokratische Monster« EU, dessen Kompetenzen beschnitten werden müssten, immer auch innenpolitische Ziele. So kritisieren PiS-Politiker stellvertretend für die aus ihrer Sicht reformbedürftige Union mit Vorliebe Szydłos Vorgänger Donald Tusk von der oppositionellen Bürgerplattform (PO), der seit 2014 Präsident des Europäischen Rates ist. Angriffe auf diesen bekanntesten Vertreter der polnischen Opposition, der als Regierungschef von 2007 bis 2014 einen europafreundlichen Kurs eingeschlagen hatte, sollen die PO als innenpolitischen Gegenspieler der PiS diskreditieren.
Trotz der strategischen EU-Kritik der PiS wird die Mitgliedschaft Polens in der EU grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Allein die rechtsextreme Orga­nisation Ruch Narodowy sowie die EU­skeptische Partei Korwin bringen derzeit ein landesweites Referendum zur Asylpolitik und zum Verbleib in der EU ins Spiel. Angesichts der hohen Zustimmung zur EU innerhalb des Landes gelten diese Vorschläge allerdings als reine PR-Aktionen. Nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch ist ein EU-Austritt Polens nicht denkbar. Das Land profitiert als einer der größten Nettoempfänger der EU ungemein von der EU-Mitgliedschaft. Seit dem Beitritt 2004 ist das polnische Bruttosozialprodukt um rund 40 Prozent gestiegen und das auch in den Krisenjahren anhaltende Wachstum hat die Arbeitslosenrate von 20 auf etwa acht Prozent mehr als halbiert. Das von der PiS-Regierung initiierte Ausgabenprogramm, das unter anderem Steuerentlastungen für Geringverdiener sowie die erstmalige Einführung eines Kindergeldes ermöglichte, ist eine direkte Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem EU-Beitritt.
Es ist derzeit noch nicht absehbar, wie sich der bevorstehende Austritt Großbritanniens wirtschaftlich auf Polen auswirken wird. Das Vereinigte ­Königreich ist Polens zweitgrößter Handelspartner, ein dauerhaft geschwächtes Pfund in Verbindung mit einem gestärkten Euro kann negative ökonomische Folgen mit sich bringen. Vor einer schwierigen Entscheidung stehen auch die etwa eine Million Polinnen und Polen, die als größte Gruppe von EU-Ausländern in Großbritannien leben. Diese profitierten nach der EU-Osterweiterung von der liberalen Migrationspolitik des Landes, mittlerweile sehen sie sich jedoch verstärkt antipolnischen Ressentiments ausgesetzt. Die zur Diskussion stehende Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Vereinigten Königreich sowie der erschwerte Zugang zu Sozialleistungen könnten nach aktuellen Schätzungen etwa 250 000 Polen zur Rückkehr zwingen. Wegfallen würde damit auch ein Teil der privaten Geldflüsse aus Großbritannien nach Polen, die den Familien der Auslandsarbeiter ihren Anteil am bisherigen Wirtschaftsaufschwung in Polen ermöglichten.