Ein großer Teil der türkischen Bevölkerung steht hinter Ministerpräsident Erdogan

Autoritäre Party

In der Türkei machen die Islamisch-Konservativen ausländische Drahtzieher für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich. Ein großer Teil der Bevölkerung heißt derzeit die Repression der AKP-Regierung gegen Oppositionelle gut.

Nach dem Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli wurde das gesamte Land zur Bühne eines mit großem Aufwand betriebenen nationalistischen Spektakels. Auf allen öffentlichen Plätzen stellte man in Windeseile riesige Bildschirme auf. Vor allem Präsident Recep Tayyip Erdoğan deklamierte dort drei Wochen lang Gedichte und predigte nationale Einheit. Ein neues türkisches Epos werde gerade geschrieben, lautete das Leitthema der Ansprachen: Das heilige türkische Volk habe sich gegen die schlimmste Gefahr auf diesem Erdball siegreich zur Wehr gesetzt, der weltweiten Verschwörung des in den USA lebenden Islamistenführers Fethullah Gülen. Vielerorts wurden symbolisch Gülen darstellende Stoffpuppen an Galgen gehängt, begleitet von For­derungen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe.
Die Gülen-Bewegung betrieb ein seit Jahrzehnten wachsendes Netz aus Schulen und Hochschulen, die für ihre reli­giöse Indoktrination, aber auch für ihre Qualität bekannt waren. Viele ihrer ­Anhänger gelangten daher in wichtige Positionen in der Justiz, im Polizeiapparat und im Militär. Dort arrangierten sie sich jahrelang mit unterschiedlichen Regierungen und Regimes, auch mit der Regierungspartei AKP. ­Gefälschte Beweise in politisch motivierten Prozessen und andere schmut­zige Deals kennzeichnen die Türkei seit Jahrzehnten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte konstatierte immer wieder schwere Verfahrens­fehler. Umso besser, dass die AKP-Regierung nun mit der Gülen-Bewegung ­einen Universalschuldigen für das systemische Versagen der Rechtsprechung finden konnte. Im Hintergrund ziehen nach Lesart ausländische Mächte die Fäden.
In den von der Regierungspartei fast komplett kontrollierten türkischen ­Medien kursieren derzeit Fotos, auf denen Angehörige des Generalstabs mit Agenten der CIA bei konspirativen Treffen zur Putschvorbereitung zu sehen sein sollen. Vildan Çelik sitzt für die AKP im Stadtrat des islamisch-konservativ dominierten Istanbuler Stadtteils Üsküdar. Für sie besteht kein Zweifel daran, dass die Türkei gerade einem internationalen Komplott zum Sturz der Regierung entgangen ist. »Das sind Intrigen, um die Türkei klein und abhängig zu halten«, unterstreicht sie, »wenn die USA Gülen nicht ausliefern, bestätigt uns die amerikanische Regierung dieses Bild.« Während die US-Regierung Beweise für eine Beteiligung Fethullah Gülens an dem Putschversuch verlangte, entgegnete Erdoğan vergangene Woche, für Ussama bin Ladens direkte Beteiligung an den Anschlägen vom 11. September 2001 habe es auch keine konkreten Beweise gegeben.
Die nächtlichen Mahnwachen für die Demokratie ließen in den vergangenen drei Wochen für einige ein Sommermärchen entstehen, für andere herrschte der blanke Wahnsinn in den schwül-heißen Nächten. Konvois mit hupenden Autos, aus denen türkische Flaggen geschwenkt wurden, tourten bis spät in die Nacht durch die Metropole am Bosporus. Ganz Istanbul lauschte den zentralen Hymnen der islamischen-konservativen Bewegung. In den sozialen Medien wurden diese von den einen enthusiastisch geteilt, die anderen stöhnten, sie könnten die Märsche nicht mehr hören. »Ich gebe mein Leben für meine Türkei«, »Un­sere Minarette sind Bajonette«, »Der furchtlose Löwe Erdoğan« und andere martialische Verse, begleitet von pathetischer Musik, nutzt die AKP für ihre Agitation.
Im Üsküdar wehten am Sonntag Tausende türkische Nationalflaggen auf dem Platz direkt vor den Schiffsanlegestellen am Bosporus. Aus den Lautsprechern dröhnte die Vertonung eines Gedichtes von Ziya Gökalp (1876–1924), einem der an der Entwicklung des türkischen Nationalismus maßgeblich beteiligten osmanischen Intellektuellen. Doch was er vor 100 Jahren als Verse gegen den europäischen Imperialismus dichtete, klingt heute islamistisch. »Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten. Diese göttliche Armee ist bereit/(…)/Gott ist groß, Gott ist groß« – diese Zeilen stammen aus dem Gedicht »İlahi Ordu« (»Göttliche Armee«).
Im April 1998 war Erdoğan, damals Oberbürgermeister von Istanbul, vom Staatssicherheitsgericht in Diyarbakır wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten gemäß Artikel 14 der türkischen Verfassung und nach Artikel 312/2 des damaligen türkischen Strafgesetzbuches (»Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden«) zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt und mit lebenslangem Politikverbot belegt worden. Anlass war eine Rede bei einer Konferenz in der ostanatolischen Stadt Siirt. Yavuz Y., der seinen ganzen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, war damals 14 Jahre alt, sein Vater engagierte sich in der Wohlfahrtspartei des Islamistenführers Necmettin Erbakan, in der Erdoğan damals der aussichtsreichste Nachwuchspolitiker war. Yavuz Y. erinnert sich, wie er damals aus dem ärmlichen Viertel Ümraniye auf der asiatischen Seite Istanbuls fast zwei Stunden mit dem Bus brauchte, um zur Oberstadtverwaltung in Beyazıt auf der europäischen Seite zu fahren. »Die Verurteilung Erdoğans war für uns ein ganz klarer Versuch der kemalistischen Elite, die stärkste Führerpersönlichkeit der islamisch-konservativen Bewegung auszuschalten. Zu Tausenden demons­trierten wir vor der Oberstadtverwaltung und legten den gesamten Verkehr lahm«, erzählt er.
In den neunziger Jahren legte Erdo­ğan den Grundstein für die absolute Ergebenheit der heutigen Basis der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP). »Erdoğan ist für uns die Stimme des Zorns gegen die alte Elite, die den Großteil des Volkes unverhohlen verachtete«, sagt Yavuz Y., sein Gesicht glüht vor Begeisterung. »Es gab damals ein Apartheidsystem gegen Frauen, die ein Kopftuch trugen. Sie durften nicht studieren. Deswegen wurden sie gleichzeitig wegen ihrer schwachen Bildung verachtet und hatten auch keine Möglichkeit, in guten Positionen zu arbeiten.« Seine Ehefrau Gaye trägt kein Kopftuch. Beide sind Akademiker und haben von der Förderungspolitik der AKP für die eigenen Anhänger und ihre Familien profitiert. Stipendien und Auslandsaufenthalte waren vor Erdoğan Privilegien der Wohlhabenden. In den neunziger Jahren gab der türkische Staat weniger Geld für das Bildungswesen aus als arme Länder wie Bangladesh, wie der türkische Unternehmerverband Tüsiad bereits 1994 in einem Bericht kritisierte. Auch viele laizistisch eingestellte Türken solidarisierten sich damals mit zentralen Forderungen der Islamisch-Konservativen. Erdoğan profitierte nach vier Monaten Haft von einer Amnestie und durfte in die Politik zurückkehren. Problematisch ist, dass die vermeintlich Verachteten und Gepeinigten von damals heute Verständnis für die Unterdrückung Andersdenkender durch die eigene Bewegung aufbringen. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Anna Secor stellte bei einer Erhebung unter Islamisch-Konservativen im Anschluss an die Gezi-Proteste 2013 fest, dass Akademikerinnen im Vergleich zu Frauen aus ärmeren Schichten vehementer autoritäre Strukturen befürworten. In ihrer gerade erschienen Publikation »The post-Islamist problematic: questions of religion and difference in everyday life« wird festgestellt, dass die Etablierung der eigenen Elite einen Wandel des Demokratieverständnisses unter den Frauen bewirkt habe. Der Kampf für die eigene Partizipation am öffentlichen Leben bewirke heute eine Verteidigung des eigenen Führungsanspruchs.
Am Sonntag strömten etwa eine Million Menschen zu einer Massenkundgebung der AKP in Istanbul, an der auch die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die ultranationalistische Nationale Bewegungspartei (MHP) teilnahmen. Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, lobte die Nacht vom 15. Juli als Begründung einer »Neuen Türkei«, die gerade Geschichte schreibe. Es fragt sich nur, welche. Kılıçdaroğlu trat zwar gegen die Verfolgung Andersdenkender im Zuge der »Säuberungsaktionen« gegen die vermeintliche Gülen-Verschwörung ein. Der Ausschluss der prokurdischen Partei HDP manifestierte aber gerade die Machtlosigkeit der türkischen Opposition. Gegen alle kurdischen Abgeordneten werden zurzeit Prozesse geführt. Verlieren sie ihre Mandate, steht einer absoluten Mehrheit der AKP womöglich nichts mehr im Wege. Yavuz Y. fasst die Denkweise der islamisch-konservativen Bewegung treffend zusammen: »Ich verstehe Kılıçdaroğlu nicht. Nach dem Putsch ist es nicht an der Zeit, die Regierung zu kritisieren. Erdoğan wendet gerade eine Chemotherapie gegen die Krebsgeschwüre in der Gesellschaft an. Dass da auch einige gesunde Zellen sterben, ist ein notwendiger Teil der Therapie.«