das Sensationsteam der Copa Libertadores

Festgekrallt und dann doch umgefallen

Independiente del Valle, das Team mit dem überaus schmalen Etat, hat es nicht geschafft: Das Finale der Copa Libertadores gewann Nacional Medellín.

Im letzten und entscheidenden Spiel waren plötzlich die Beine schwer. Als zweiter ecuadorianischer Club überhaupt – nach LDU Quito im Jahr 2008 – wollte Independiente del Valle Ende Juli die Copa Libertadores, die südamerikanische Champions League, gewinnen. Doch ein Tor bereits in der achten Minute durch Miguel Ángel Borja für Finalgegner Nacional Medellín aus Kolumbien entschied das erste Copa-Libertadores-Finale ohne Beteiligung eines Teams aus Brasilien oder Argentinien seit 25 Jahren. Das plötzlich wie paralysiert spielende Team aus Ecuador fand nie in die Partie und so endete dessen epische Erfolgsserie im Wettbewerb mit ausdruckslosen Gesichtern und vielen Tränen.
Dabei war der Finaleinzug von Independiente, das vor zehn Jahren noch in Ecuadors dritter Liga kickte, alleine schon eine Sensation. Das ist in etwa so, als würde der FC Augsburg das Champions-League-Finale erreichen und auf dem Weg dorthin Real Madrid und den FC Barcelona ausschalten.
Jahrzehntelang hatte der Club de Alto Rendimiento Especializado Independiente del Valle, kurz Independiente del Valle, aus Sangolquí, einer Trabantenstadt mit 80 000 Einwohnern vor den Toren von Quito, ein eher unscheinbares Dasein in den Niederungen des ecuadorianischen Fußballs geführt. Am 1. März 1958 von dem Fußballfan José Terán gegründet und 1977, zwei Jahre nach dessen Tod, nach ihm benannt, stieg CSD Independiente José Terán, wie der Klub fortan hieß, 1995 zum zweiten Mal in die dritthöchste Spielklasse auf, wo man auch 2006 noch kickte – dem Jahr, in dem sich alles ändern sollte.
Der deutschstämmige Unternehmer Michel Deller, der mit Beteiligungen an zwei Shopping Malls ein Vermögen gemacht hatte, entdeckte damals sein Interesse am Fußball. Zusammen mit zwei weiteren Unternehmern setzte er die Umwandlung des Clubs in eine Aktiengesellschaft durch. »Der Unterschied zu anderen Vereinen ist, dass hier Aktien erworben werden können, die Clubführung länger als zwei Jahre im Amt bleiben kann und dadurch nachhaltigere Arbeit möglich wird«, erklärte Geschäftsführer Santiago Morales 2009 gegenüber der Tageszeitung Comercio die Erfolgsformel. Der Name wurde erneut geändert, in Independiente del Valle, wie auch die Vereinsfarben von Rot-Weiß in Blau-Schwarz. Fortan ging es steil bergauf: 2007 klappte der Aufstieg in die Serie B; 2009 ­gelang die Meisterschaft in Liga zwei. Seit 2010 spielt man in der ersten Liga; 2013 wurde die Vizemeisterschaft errungen.
Die Änderung des Geschäfts­modells war das eine, vor allem aber krempelte die Clubführung die ­Jugendarbeit um. Orientiert an der Aspire Academy in Qatar ist Independientes Nachwuchsarbeit im vereinseigenen Leistungszentrum mit acht Trainingsplätzen mittlerweile vorbildlich in Ecuador. Bekanntester Abgang der clubeigenen Akademie ist Jefferson Montero, mittlerweile ­Nationalspieler Ecuadors und bei Swansea in der englischen Premier League unter Vertrag.
Die gute Nachwuchsarbeit spiegelt sich auch im Team von Coach Pablo Repetto wider – ehemaliger Coach muss man sagen, denn er verließ Independiente nach der Finalnieder­lage in Richtung Vereinigte Arabische Emirate. Stützen der Mannschaft, die mit ihrer Unbekümmertheit die diesjährige Copa Libertadores auf­gemischt hat, sind Jungspunde, die zum Teil aus der eigenen Jugend stammen, wie der 21jährige Mittelstürmer José Angulo, der bereits sechs Tore in der Copa erzielte, Linksaußen Bryan Cabezas (19) oder Mittelfeldspieler Jefferson Orejuela (23).
Dabei hätte bereits Schluss sein können, bevor es überhaupt losging. Hätte Hernán López von Paraguays Club Guaraní an jenem 11. Februar in der fünften Minute der Nachspielzeit seinen Strafstoß nicht neben das Tor gesetzt; Independiente del Valle aus Ecuador wäre schon in der ersten Runde der diesjährigen Copa Libertadores ausgeschieden. Dem Stürmer aber versagten die Nerven und ­Independiente erreichte die Gruppenphase.
Dort setzte man sich überraschend gegen Brasiliens Spitzenteam Atlético Mineiro, Chiles Rekordmeister Colo-Colo und FBC Melgar aus Peru durch. Drei Pfostentreffer der Chilenen und ein phänomenaler Librado Azcona im Tor retteten Independiente ein torloses Unentschieden am letzten Spieltag in Chile, das den Weg als Gruppenzweiter ins Achtelfinale ebnete. Dort wartete mit Titelverteidiger River Plate die schwerstmögliche Aufgabe. Nach dem schweren Erdbeben vom 16. April an Ecuadors ­Küste, bei dem mehr als 660 Menschen ums Leben gekommen waren, beschloss Independiente, die Einnahmen aus dem Ticketverkauf des im Nationalstadion Atahualpa in Quito ausgetragenen Hinspiels komplett den Erdbebenopfern zu spenden. Zwei Tage vor der Partie waren alle 38 500 Eintrittskarten vergriffen. Das eigene Estadio Rumiñahui fasst gerade einmal 7 233 Zuschauer – zu klein für internationale Begegnungen. Getragen von den Fans und durch einen Foulelfmeter in der Schlussminute schlug Independiente den turmhohen Favoriten aus Argentinien mit 2:0. Eine Woche später dann brachte Torwart Azcona die gegnerischen Angreifer, Zuschauer und TV-Kommentatoren mit einer Weltklasse-Parade nach der anderen gleichermaßen zur schieren Verzweiflung. Einzig Luis Caicedo konnte ihn sieben Minuten vor Spielende überwinden. Die 0:1-Niederlage aber reichte zum Weiterkommen.
Im Viertelfinale wurde dann Mexikos Traditionsklub Pumas de la UNAM mit 5:3 im Elfmeterschießen aus dem Weg geräumt. Wieder war Azcona der Held. Und auch im Halbfinale gegen den sechsmaligen, ­argentinischen Copa-Libertadores-Champion Boca Juniors war es erneut der 32jährige, der mit Glanzparaden das Weiterkommen sicherte. Ecuadors begeisterter Staatspräsident Rafael Correa brachte den Torhüter nach Spielende schon mal für seine Nachfolge ins Spiel: »Azcona Presidente« twitterte er. Bocas Stürmer-Star Carlos Tévez dagegen dachte in der Enttäuschung der Niederlage sogar kurzzeitig daran, seine Fußballschuhe endgültig an den Nagel zu hängen.
»Die Gegner dachten, Geld spielt eine größere Rolle als Können«, kommentierte Clubchef Deller den Überraschungscoup. Ganze fünf ­Millionen US-Dollar beträgt das Jahresbudget von Independiente. Allein die Einnahmen aus der Copa Libertadores liegen um mehr als eine Million höher. Um die trotzdem so großen Erfolge seines Clubs zu beschreiben, wählte Deller ein anschauliches Bild: »Wir haben uns am Schutzblech eines Busses festgekrallt, der mit ­voller Geschwindigkeit eine Autobahn entlangfährt, und wir versuchen dahinter im Windschatten nicht umzufallen.«
Im allerletzten Spiel sind die Spieler von Independiente dann aber doch noch umgefallen, um bei dem Bild zu bleiben, beziehungsweise wurden von Nacional Medellín ausgerechnet dann umgestoßen, als sie bereits eine Hand an der begehrtesten Trophäe im südamerikanischen Vereinsfußball hatten. Aber Erfolg und Tragik liegen im Sport oft nahe bei­einander. Gerade Nacional Medellín kann davon ein Lied singen. Die erfolgreichste Zeit des Clubs war zugleich dessen dunkelstes Kapitel. Seinen ersten und bisher einzigen ­Copa-Libertadores-Titel hatte der Klub 1989 errungen, doch hinter den ­Kulissen zog der legendäre Drogenboss Pablo Escobar mit seinen Mil­lionen die Fäden, bestach Schiedsrichter und Funktionäre gleicher­maßen, so dass stets ein Makel auf diesem Copa-Gewinn lag. 27 Jahre dauerte es, bis Nacional Medellín diesen nun endlich tilgen konnte.