Der Roman »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« von Ilja Ehrenburg

Das Leben als Lotterie

Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod polarisiert der russische Schriftsteller und Journalist Ilja Ehrenburg noch immer. Kürzlich ist sein Roman »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« neu aufgelegt worden.

»Viele meiner Zeitgenossen kamen unter die Räder der Zeit. Ich blieb am Leben – nicht weil ich stärker oder scharfäugiger gewesen wäre, eher deshalb, weil es Zeiten gibt, da das Schicksal eines Menschen nicht einer Schachpartie, sondern einem Lotteriespiel gleicht«, schrieb Ilja Ehrenburg zu Beginn seiner seit den frühen Sechzigern in mehreren Bänden ­publizierten Autobiographie »Menschen Jahre Leben«. Die kontem­plative Ruhe und Konzentration des Schachspiels waren ihm nur selten vergönnt, vielmehr hielt er sich immer dort auf, wo es am lautesten nach ­Veränderung schrie: sei es als 14jähriger Schüler bei den Kämpfen der gescheiterten Russischen Revolution 1905, bei der Oktoberrevolution 1917, im Paris des Surrealismus in den Zwanzigern, an der Seite von Durutti und Hemingway im Spanischen Bürgerkrieg 1936 oder bei der Gründung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees 1942 in Moskau.
Der 1891 in Kiew geborene Schriftsteller und Journalist, der sich selbst als »wurzelloser Kosmopolit« verstand, bevor Stalin die russischen Juden ab Ende der Vierziger als solche zu diffamieren versuchte, verbrachte, oftmals unfreiwillig, nur selten lange Zeit an einem Ort, wurde von der Weltgeschichte immer wieder weitergetrieben und nahm Eindrücke von all seinen Stationen in seine literarischen und essayistischen Arbeiten auf. Das Kind einer bürgerlichen jüdischen Familie schloss sich bereits als Schüler in den Jahren nach der Revolution 1905 einer bolschewistischen Untergrundorganisation an, wurde der Schule verwiesen, verhaftet und mehrere Monate inhaftiert. Nach seiner Freilassung ging er 1909 nach Paris ins Exil. Einerseits arbeitete er weiter politisch und traf sich mit Trotzki in Wien, andererseits kam er jedoch mit der künstlerischen Avantgarde seiner Zeit in Kontakt, schloss Freundschaften mit Pablo Picasso, Fernand Léger und Diego ­Rivera, übersetzte Gedichtbände von Guillaume Apollinaire, Paul Verlaine und François Villon ins Russische und publizierte 1910 einen ersten eigenen Gedichtband im Stil des russischen Symbolismus.
Während des Ersten Weltkriegs, den er einmal die »Unreinschrift des Zweiten« nannte, schrieb er für ­russische Zeitungen Artikel von den Frontlinien, und wurde zu einem ­politischen Journalisten, ohne seine literarischen Arbeiten zu vergessen. »Ich träumte abwechselnd von der Revolution und vom Weltuntergang«, heißt es in seiner Autobiographie. Die Gewalt des Krieges prägte den jungen Journalisten nachhaltig, noch Jahrzehnte später schrieb er über seine erste Begegnung mit der Front: »Trotz aller Zeitungslektüre konnte ich mir bisher nicht vorstellen, dass die Front eine grandiose Maschine zur planmäßigen Menschenvernichtung war. Heldentaten, ­Tugenden und Leiden wogen wenig – der Tod arbeitete mechanisch.« ­Diese für ihn unfassbare Gewalt mag auch ein Grund gewesen sein, warum er zur Revolution, wegen der er 1917 zurück nach Russland gereist war, auf Distanz blieb, wie er in »Menschen Jahre Leben« festhielt: »Ich kann nicht sagen, dass ich der Politik oder überhaupt der Aktion immer ferngeblieben wäre. In früher Jugend schon arbeitete ich in der Untergrundbewegung, auch im reifen Alter nahm ich oft unmittelbaren Anteil an den Ereignissen. Aber 1917 war ich Zuschauer. Ich benötigte zwei Jahre, um die Bedeutung der Oktoberrevolution ermessen zu können.«
In dieser Zeit wurde Ehrenburg, für den sein jüdischer Familienhintergrund nie eine große Rolle gespielt hatte, zum ersten Mal mit der Gewalt des Antisemitismus konfrontiert, als er in Kiew ein Pogrom miterlebte. »Ich gehöre zu jenen, die man beleidigt«, fasste er diese Erfahrung zusammen, die er mit seinen in dieser Zeit neu gewonnenen Freunden Isaak Babel und Ossip Mandelstam teilte, die beide Jahre später Stalins antisemitisch geprägten Vorgehen gegen angebliche »antisowjetische Tätigkeiten« zum Opfer fielen. Vor allem mit Mandelstam und dessen Frau Nadeschda verbrachte Ehrenburg während seiner Jahre in der ­Sowjetunion viel Zeit, sie lebten zeitweise gemeinsam völlig verarmt auf der Krim.
1921 kehrte er zusammen mit seiner Frau Ljuba nach Paris zurück, aufgrund seiner politischen Vergangenheit wurde er jedoch ausgewiesen und nach Belgien abgeschoben. Schließlich landete Ehrenburg in Berlin, wo er an seine literarische Arbeit anknüpfte. Wiederum suchte er Kontakt zur künstlerischen Avantgarde, traf Carl Einstein, George Grosz, Ernst Toller und Herwarth Walden sowie die Exilrussen Boris Pasternak, Wladimir Majakowski, Maxim Gorki und Marina Zwetajewa. Er veröffentlich einige Essaybände und gründet mit dem Künstler El Lissitzky das dreisprachige Zeitschriftenprojekt Gegenstand.
Vor allem aber entstand in dieser Zeit sein erster Roman »Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger«, der sich ­intensiv mit Ehrenburgs jüdischen Identität beschäftigt, wenn auch in Form eines überzogenen Schelmenromans, der jedoch, wie Peter Hamm im Nachwort zum soeben neu aufgelegten Roman »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« herausarbeitet, die Tragik der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhundert vorhergesehen hat. Ehrenburg schrieb dort 1921: »In der nächsten Zeit findet statt die feierliche Ausrottung des jüdischen Volkes zu Budapest, Kiew, Jaffa, Algier und an vielen anderen Orten. Das Programm umfasst neben den beim verehrten Publikum beliebten Pog­romen im Geiste der Zeit restaurierte Judenverbrennungen, Einscharren der Juden bei lebendigem Leibe, Besprengung der Felder mit jüdischem Blute ebenso wie allerlei neue Methoden der ›Säuberung‹ der Länder von verdächtigen Elementen«.
1924 setzte er diese Beschäftigung mit seinem jüdischen Hintergrund in Paris weiter fort, wo er 1927 den Roman »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz« fertigstellte, der in der Sowjetunion erst 1989 erscheinen konnte. Dieser ironische Ritt durch die politischen und künstlerischen Positionen der Zeit aus einer jüdischen Perspektive stellt den Höhepunkt von Ehrenburgs künstlerischer Beschäftigung mit dem Judentum dar. Als Journalist jedoch hat er sich immer wieder mit seiner jüdischen Identität beschäftigt und beschäftigen müssen, da er bereits 1931 auf Deutschland-Reisen die Bedrohung durch den Nationalsozialismus wahrnahm. So verstand er sein Engagement im Spanischen Bürgerkrieg auch als Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus – er fuhr mit einem Lastwagen durch Spanien, der als Frontkino wie auch als Druckerei benutzbar war, und gab eine auf Spanisch, Katalonisch, Deutsch und Italienisch publizierte Zeitung heraus, die für eine Einheitsfront warb.
Als 1939 der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde, kam dies für den wieder in Paris lebenden Ehrenburg, wie Peter Hamm schreibt, »einem Untergang seiner Welt gleich. Er erlitt einen schweren psychischen und physischen Zusammenbruch, konnte wochenlang nicht schlafen und nichts essen und verlor 20 Kilogramm Gewicht.« Dennoch kehrte Ehrenburg nach Moskau zurück, wo er einen Monat nach dem Angriff Deutschlands in einem Artikel schrieb: »Ich bin in einer russischen Stadt aufgewachsen. Meine Muttersprache ist Russisch. Ich bin ein russischer Schriftsteller. Wie alle Russen verteidige ich jetzt meine Heimat. Aber die Nazis haben mich noch an etwas anderes erinnert: Meine Mutter hieß Hanna. Ich bin Jude. Ich sage das mit Stolz. Hitler hasst uns mehr als alles andere. Und das gereicht uns zur Ehre.«
Dieses Zurückgeworfenwerden auf das eigene Judentum, das er mit dem Kommunismus überwunden geglaubt hatte, begleitete ihn bis an sein Lebensende. Als Gegenmittel zum deutschen Nationalsozialismus sah er nur den Hass: »Wir lebten nun einmal in einer Zeit, in der ganz gewöhnliche junge Männer, die manchmal sogar sympathische Züge, sentimentale Bekenntnisse auf den Lippen und das Foto ihrer Liebsten im Tornister hatten, sich einbildeten, sie seien die Auserwählten, und darangingen, die Nichtauserwählten auszurotten. Nur echter, abgrundtiefer Hass konnte dem Faschismus Einhalt gebieten.«
Goebbels Propagandaabteilung tat alles dafür, diesen Hass auf Ehrenburg zurückzulenken und ihn in Artikeln zu diffamieren, die noch Jahre nach seinem Tod das Bild Ehrenburgs in Deutschland prägten. Ein Ergebnis von Ehrenburgs Hass auf den Nationalsozialismus war das gemeinsam mit Wassili Grossman erstellte »Schwarzbuch« über den Genozid an den sowjetischen Juden. Entstanden war es im Zusammenhang der Arbeit des Jüdischen Antifaschistischen ­Komitees auf Anregung Albert Einsteins, erschien jedoch erst 1980 in ­einem israelischen Verlag und enthält Protokolle Überlebender und Dokumentationen der Orte des Grauens.
Stalin verhinderte die Veröffentlichung in der Sowjetunion, auch das Jüdische Antifaschistische Komitee, dessen Aufgabe es gewesen war, weltweit Juden im Kampf gegen Nazideutschland zu mobilisieren, wurde zerschlagen und die meisten führenden Mitglieder ermordet. Ehrenburg überlebte die Säuberung und verhielt sich in den Folgejahren politisch ­unauffällig. Wenn er auch ab 1949 nicht mehr gedruckt und über ihn nicht mehr geschrieben werden durfte, verfasste er weitere Romane, die literarisch jedoch nicht die Größe seines Frühwerks erreichten. 1967 starb er in Moskau.
Betrachtet man diesen Lebenslauf, der stets das literarische Werk überschattet, so scheint der von Ehrenburg in seinen Memoiren formulierte Satz »Es existieren zwei Ehrenburgs« stark untertrieben. Tatsächlich erscheint es, als hätte es unzählige Ehrenburgs gegeben, die sich widersprüchlich und streitlustig gegenüberstanden: der Romancier und der politische Journalist, der stolze russische Jude und der Antizionist, der einerseits von Stalin enttäuschte Kommunist und der andererseits von ihm instrumentalisierte Propagandist. Eben diese Widersprüche jedoch lassen Ehrenburg zu einer Person werden, die bis in die Gegenwart polarisiert. Vor allem in Deutschland, wo die von Goebbels verbreitete Propaganda, Ehrenburg fordere in Artikeln den Tod aller Deutschen sowie sowjetische Soldaten zur systematischen Vergewaltigung deutscher Frauen auf, noch immer nachwirkt – davon zeugen die Kommentarspalten unter aktuellen Rezensionen des ­Romans »Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz«.
Der Protagonist dieses in den späten Zwanzigern geschriebenen Romans, der jüdische Herrenschneider Roitschwantz, wird ebenso wie der Autor Ehrenburg aus seinem Schtetl hinaus in die Welt geschleudert, trifft auf Künstler und Politiker in unterschiedlichen Ländern Europas – und landet für seine kleinen Betrü­gereien immer wieder im Gefängnis, bis er schließlich im Heiligen Land am Grab der Erzmutter Rahel stirbt. »Sie und ich, wir sind doch keine Weltgeschichte«, sagt er einmal, und doch trifft der arme Herrenschneider auf die Weltgeschichte, auf die zentralen Orte, Künstler und politischen Ereignisse seiner Zeit.
Ehrenburgs Parodie des antisemitischen Motivs vom »wandernden ­Juden«, der heimat- und wurzellos durch die Welt getrieben wird und nirgends heimisch werden kann – weil er von überall verjagt wird –, ist geprägt von Sympathie für die Perspektive des außerhalb der Gesellschaft Stehenden auf die Welt. Er könne zum einzig wahren Kritiker der Gesellschaft werden, wie Hannah Arendt schrieb. Roitschwantz nimmt ­weder seine Religion – von der er dennoch unzählige Parabeln zu ­erzählen weiß – noch seine Zeitgenossen ernst, zeigt die Absurdität von Traditionen und Ideologien auf, vorgetragen mit der Naivität des »kleinen Mannes«, der jedoch über eine enorme Sprachgewalt verfügt, die er in endlosen Monologen immer wieder demonstriert.
Beeinflusst von der jiddischen Schtetl-Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich meist mit innerjüdischen Fragen beschäftigt hat, konfrontiert Ehernburg seinen »wandernden ­Juden« mit der großen Welt außerhalb des Schtetls, der er mit Humor und Sarkasmus begegnet. Am Anfang des Buchs jedoch steht ein Seufzer, der die Geschichte in Gang und Lasik ins Gefängnis bringt, da ihm der Seufzer als Beleidigung der politischen Autoritäten ausgelegt wird: »Man kann behaupten, dass das ganze bewegte Leben Lasiks mit einem unvorsichtigen Seufzer begann. Es wäre besser gewesen, er hätte nicht geseufzt.«
Mit diversen dieser Autoritäten legt sich Lasik Roitschwantz im Verlaufe des Buchs auf seine subversiv-ironische Weise an, als Kaninchenbeobachter mit der sowjetischen postrevolutionären Bürokratie oder als Rabbi in Frankfurt mit dem orthodoxen ­Judentum. Auch die Kunst bekommt es mit Lasik zu tun. Die Pariser Boheme-Szene wird ebenso parodiert wie der sozialistische Realismus, ­wobei in diesen Episoden durchaus die große Sympathie Ehrenburgs – der die Sowjetunion mit westlichen Künstlern wie Picasso bekannt machte und den russischen Symbolismus nach Paris mitbrachte – für die Kunst erkennbar bleibt.
Der Episodenroman offenbart tiefe Skepsis, während er gleichzeitig ­weder die Ideale des Kommunismus noch die Ansätze der künstlerischen Avantgarden oder die jüdische Kulturgeschichte ablehnt, sondern einer ironischen Untersuchung unterzieht. Dass die tatsächlichen Feinde wo­anders zu suchen waren, hat auch Ehrenburg immer wieder betont, ­zuletzt bei einer Rede anlässlich seines 70. Geburtstags: »Ich bin ein ­russischer Schriftsteller. Und solange auf der Welt auch nur ein einziger Antisemit existiert, werde ich auf die Frage nach der Nationalität stolz ­antworten: ›Jude‹.«
Ilja Ehrenburg: Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Berlin 2016, Verlag Die andere Bibliothek, 408 Seiten, 42 Euro