Wer hat die Kontrolle über den Terror? Über die »virtuelle Allianz« zwischen dem Kalifat und seinen Kriegern

Die sechste Kolonne des Terrors

Die Fähigkeit des »Islamischen Staats«, für terroristische Anschläge im Westen zu mobilisieren, hängt entscheidend von seiner Strahlkraft als angebliche Befreiungsorganisation ab. Die Attacken sind keine strategische Abkehr vom territorialen Kampf, sondern dienen seiner Unterstützung.

Kalifat des Terrors – so lässt sich das Bild zusammenfassen, das in den vergangenen zwei Jahren vom »Islamischen Staat« (IS) vornehmlich gezeichnet wurde. Eine territorial zusammenhängende Gewaltordnung im Herzen der muslimischen Welt, brutal durchgesetzt von einer streng hierarchischen Organisation islamistischer Extremisten, die fanatisierte Jihadisten aus der ganzen Welt anzieht, um jene Ordnung militärisch auf die gesamte Region auszudehnen – und nebenbei einige Köpfe abzuschneiden. Inzwischen ist das Bild erweitert worden. Wer an den IS denkt, der hat auch die Anschläge außerhalb der umkämpften Region vor Augen, die dem IS zugeordnet werden – dezentral organisiert und verübt von Individuen, die kaum bis gar nicht mit der Organisation in Verbindung stehen. Und plötzlich erscheint der IS weniger als straff gesteuertes Unternehmen, sondern fast schon als partizipatorische Bewegung, die ihre transnationale Dynamik aus der Eigeninitiative ihrer Anhängerschaft schöpft. Es ist diese Komponente des »führungslosen Widerstands«, die den IS besonders unberechenbar macht. Das spiegelt die sich in der wachsenden Angst vor muslimischen Mitbürgern und Flüchtlingen wider, die als potentielle »Schläfer« oder Infiltratoren im Dienste einer islamistischen Verschwörung wahrgenommen werden.
Dennoch wird die Ausweitung des Operationsgebiets – Gewaltforscher sprechen von einer »horizontalen Eskalation« – nicht als Erstarken des IS gedeutet. So heißt es einhellig im Blätterwald, das Kalifat befinde sich in der Defensive, gar in Auflösung. In seiner bisherigen Form stehe der IS vor dem Ende, ein Rückzug in die Wüste sei zu erwarten. Tatsächlich hat der Möchtegernstaat zuletzt gehörig an Territorium verloren, sein politisch-administrativer Apparat leidet unter Finanzierungsschwierigkeiten und zeigt Verfallserscheinungen. Offenbar gehen ihm sogar die Kämpfer aus, so dass er immer mehr auf Kindersoldaten setzt und seinen foreign fighters jegliche Möglichkeiten nimmt, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Und mit der Eroberung von Manbij durch die kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF), einer als »Klein-London« bekannten Stadt in Nordsyrien, in der sich vor allem IS-Rekruten aus westlichen Ländern sammelten, ist der Kern des Kalifats weitestgehend von äußerem Nachschub abgeschnitten. Zuvor schon hatte IS-Propagandachef Abu Mohammed al-Adnani festgestellt, dass es immer schwieriger wird, in das Kalifat zu gelangen, weswegen er Anhängern im Westen riet, die Ungläubigen und Abtrünnigen nun besser zu Hause mit Terror zu überziehen. Im Angesicht seiner Krise vollzieht der IS allem Anschein nach einen Strategiewechsel, damit sein Kampf auch ohne die Kontrolle über ein größeres Territorium fortgesetzt werden kann.
Identitäten aktivieren, Feindbilder schaffen
Nun ist es aber so eine Sache mit der Strategie. Wenn ein Akteur sein Verhalten ändert, dann zeigt das nicht un­bedingt einen Strategiewechsel an, sondern kann eben auch Teil des strategischen Plans sein. Strategisches Denken kennzeichnet ja gerade, mehrere Schritte voraus zu planen und sich Handlungsvariationen für veränderte Situationen zurechtzulegen. Genauer gesagt heißt es, in einer gegebenen Situation so mit den verfügbaren Mitteln zu handeln, dass eine vorteilhafte Veränderung der Situation und somit neue Handlungsmöglichkeiten zu erwarten sind. Strategien beinhalten also Etappenziele, wobei zu antizipieren ist, wie der politische Gegner und die Öffentlichkeit auf die eigenen Aktionen reagieren. Die Kräfteverhältnis in dieser Dreieckskonstellation zu verändern, indem Teile der Öffentlichkeit für die eigene Zwecke mobilisiert werden, ist der strategische Kern politischer Konfliktinteraktion. Das gilt auch für den Terrorismus, der selten als komplette Strategie gedacht ist, mit der ein politisches Ziel durchgesetzt werden soll, sondern meist als Mittel, mit dem schwache Akteure Ressourcen mobilisieren wollen, um ihren Kampf auf voraussetzungsreicherer Ebene führen zu können. Das Konzept der deutschen RAF etwa war es, den Staat zu repres­siven Maßnahmen zu provozieren, die in der Bevölkerung »Widerstand und Klassenhass und Solidarität« hervorrufen und somit einen revolutionären Umsturz auf Massenbasis befördern sollten.
Dieser Mobilisierungsmechanismus lässt sich als boundary activation beschreiben. Durch die polarisierende Kraft des Konflikts werden Identitäten in Abgrenzung zu einem Feindbild konstituiert. Gelingt es Terroristen, nennenswerte Unterstützung für ihre Sache zu mobilisieren, dann ist der Gegner Teilen der Öffentlichkeit so weit entfremdet, dass selbst Gewalt zu dessen Bekämpfung als legitim erscheint. Bei den linken Stadtguerillas der vergangenen Jahrzehnte hat dieser Mechanismus nie so recht gegriffen. Zwar riefen sie vielerorts Repression hervor, die Aktivierung der adressierten Klassenidentität blieb aber aus. Im Gegenteil, die Identifikation mit den attackierten heimischen Autoritären war höher, so dass sich die Stadtguerillas mit ihrem Handeln nur selbst isolierten. Dagegen hat das in nationalen Befreiungskämpfen häufig ganz prima funktioniert, etwa im Fall der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN), die ein Wechselspiel von Aktion und Reaktion in Gang setzte, in dem sich viele Algerier ihrer Identität als Angehörige einer unterdrückten Nation bewusst wurden. Das algerische Beispiel, in dem sich die FLN eine Massenbasis schaffen konnte, war es auch, das vielen Stadtguerillas als Vorbild diente. Dabei übersahen sie, dass die erfolgreiche boundary activation im kolonialen Kontext auf territorialen Identitätsstrukturen beruhte, die sich besser für eine Dehumanisierung des politischen Gegners eignen. Gewalt gegen »Fremde« beziehungsweise »Fremdherrscher« ließ sich schon immer am einfachsten legitimieren.
Auch der Erfolg des IS beruht teils darauf. Der jordanische Journalist Fouad Hussain hatte bereits 2005 die Strategie von al-Qaida eruiert, auf Interviews mit Spitzenkadern des Terrornetzwerks gestützt. Demnach sehe dessen Kampf sieben Phasen vor, wobei das Etappenziel der fünften lautete, sich territorial durch die Errichtung eines Kalifats zu verankern. Nicht wenigen gilt der IS, dessen Vorgängerorganisation der irakische Ableger von al-Qaida war, als Erfüller dieser Strategie. In der Tat deckt Abu Bakr Najis Strategiepapier »The Management of Savagery«, das im IS zur Pflichtlektüre gehört, im Wesentlichen die von Hussain beschriebenen Phasen vier, fünf und sechs ab: Destabilisierung, Machtabsicherung und Eskalation.
Bemerkenswert ist daran vor allem, dass die Errichtung des Kalifats eben nicht als Strategiewechsel im Jihadismus zu verstehen ist, wie es einige ­Beobachter konstatierten. So sollten die Anschläge in fernen westlichen Ländern diese zu einer militärischen Intervention in der muslimischen Welt provozieren, um die dortige Bevölkerung »aufzuwecken« und gegen den fremden Eindringling in Stellung zu bringen. Über eine Destabilisierung der Region sollte schließlich ein Machtvakuum erzeugt werden, in dem ein islamischer Staat Raum greifen kann. Der IS, so scheint es im Nachhinein, hat dieses Plan ziemlich genau umsetzen können.
Man muss nicht so weit gehen zu sagen, dass die westlichen Interventionsmächte in eine Falle der Islamisten getappt seien. Aber der Hinweis, dass die jihadistische Bewegung offenbar mit den Reaktionen ihrer Gegner kalkuliert, um diese für neue Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, ist bedeutend. Genau genommen beinhaltet diese Strategie sogar eine gewisse Abkehr vom Terrorismus, sofern darunter die antizivile Gewalt von nichtstaatlichen Akteuren verstanden wird, die sich in einem asymmetrischen Konflikt mit staatlichen Akteuren befinden. Denn durch die Errichtung eines Staats und den Aufbau einer »islamischen Armee« soll der Konflikt in einen symmetrischen verwandelt werden, um die internationale Ordnung effektiver herausfordern zu können. Mit einem ­Territorium, das als Sammlungsort der transnationalen Jihadistengemeinde – eine Art jihadi nation – fungiert, lässt sich der Kampf quasi auf interstaatlicher Ebene führen. Damit löst man sich von den konspirativen Netzwerkstrukturen der vorangegangenen Phasen und kann sich als vollwertige Befreiungsbewegung präsentieren. Die Gründung des Kalifats soll dem Jihadismus ein welthistorisches Moment verleihen wie einst die Oktoberrevolution dem Kommunismus oder die algerische Revolution dem Antikolonialismus, die jeweils eine internationale Sogwirkung entfalteten. Die Strahlkraft, die der IS auf viele junge Leute ausübt, rührt auch von diesem welthistorischen Nimbus her.
Der IS und seine Täter: eine virtuelle Allianz
Wenn auch jene territoriale Basis nun zu bröckeln scheint, so wäre es dennoch falsch, die zunehmenden Anschläge als eine Rückkehr zur Strategie von al-Qaida zu verstehen. Denn auch diese zielte stets auf die Etablierung eines Kalifats. Dass sich der irakische Ableger des Netzwerks verselbständigte und zum IS wurde, hat weniger mit strategischen als mit taktischen Differenzen zu tun. Dabei sah die irakische Gruppe vor allem in der Organisationsstruktur al-Qaidas, deren autonome »Filialen« sich im Wesentlichen an den von den verhassten »Kreuzfahrern« geschaffenen Nationalstaaten orientierten, ein Hindernis für die Etablierung des Kalifats. Tatsächlich gelang es dem IS durch eine veränderte überregionale Organisationsweise, sich zunächst im Irak zu sammeln, anschließend das Machtvakuum in Syrien zu nutzen und schließlich umso stärker im Irak zuzuschlagen. Vor allem aber bestand der Zweck der früheren Anschläge ja darin, den Feind zu provozieren und das Feindbild des Westens zu aktivieren, ­damit weitergehende Formen des Kampfes eine Mobilisierungsgrundlage haben. Dieser Zweck wurde erfüllt, der Feindkontakt ist bereits umfassend. Es geht also nicht mehr darum, den Feind durch akribisch geplante Großanschläge anzulocken, sondern darum, ihn durch spontane, unberechenbare Anschläge von innen zu polarisieren. Das IS-Magazin Dabiq spricht offen von einer »Auslöschung der Grauzone« zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Universale boundary activation also.
Damit fügen sich die Anschläge in das Bild, das Hussain von Phase sechs der Jihadistenstrategie zeichnete. Diese sieht primär einen militärischen Konflikt mit der Weltordnung vor, soll aber auch eine »totale Konfrontation« zwischen »Glauben und Unglauben« auslösen. Die Kampfbereitschaft aller Muslime soll es letztlich sein, die den Bestand des Kalifats sichert. Dass der IS nun für ein kollektives Ausrasten der Muslime im Westen plädiert, muss also nicht als Strategiewechsel infolge einer Krise verstanden werden. Eine andere Interpretation könnte lauten, dass die Strategie des IS solch eine kritische Phase zumindest vorgesehen hat. Denn gerade im Narrativ vom gefährdeten Kalifat, das sich tapfer gegen übermächtige Invasoren wehrt und dem nun zu Hilfe geeilt werden muss, steckt ein ergänzendes Mobilisierungspotential für den IS. Diejenigen, in ­deren Köpfen sich der IS als legitime Befreiungsorganisation in einer fremdbeherrschten Region darstellt, könnten sich nun zur Pflicht gerufen sehen, ihren Beitrag zu einer welthistorischen Mission zu leisten und sich als Kolonne des Kalifats zu anzudienen. Ohne den territorialen Kampf wäre der IS nicht in der Lage, potentiellen Anhängern jenen »Vietnam-Moment« zu verschaffen, der deren »Instant-Radi­kalisierung« und den »Mitmach-Terrorismus« bedingt. Wenn schon der reli­giöse Fanatismus nicht tief genug sitzt, dann vermag ergänzend die Empörung über einen »imperialistischen« Krieg den Griff zur Waffe rechtfertigen.
Dass das Kalifat diese Kolonne operativ steuern kann, darf aber bezweifelt werden. Obwohl sie als integraler Bestandteil seines transnationalen Wirkungsradius erscheint – insofern die Täter von seiner Ideologie beeinflusst sind, sich zur Organisation bekennen und von dieser als »Soldaten des Kalifats« anerkannt werden –, ist das Verhältnis zwischen Kalifat und Tätern vor allem ein medial vermitteltes. Zwar sollen die Täter von Nizza, Würzburg und Ansbach mit noch nicht näher identifizierten Eingeweihten in Kontakt gestanden haben, doch werden die meisten Terrorakte, die im Name des IS begangen wurden, »einsamen Wölfen« zugeordnet, also Tätern, die auf eigene Faust, aber im Namen einer ­Bewegung agieren. Man könnte dies als »virtuelle Allianz« bezeichnen, ein quasi-kooperatives Verhältnis, bei dem Akteure unabhängig einer Bewegung zuarbeiten und so als deren Ausführungsorgan wahrgenommen werden. Natürlich versucht der IS, es so darzustellen, als habe er direkten Einfluss auf sie, um so Handlungsfähigkeit zu simulieren und als größere ­Bedrohung zu erscheinen, doch im Wesentlichen kann er nur darauf spekulieren, dass seine Botschaften bei potentiellen Anhängern verfangen. Dabei kann er immerhin darauf bauen, dass diese Botschaften mit jedem Terrorakt weiterverbreitet werden, trägt dieser doch stets die Symbolik des IS in sich. Im Prinzip weisen daher die Anschläge eine vom IS losgelöste Dynamik auf, die darauf basiert, dass sich Muslime mit derlei Taten identifizieren und ihnen nacheifern.
Einen Beitrag zu solchen virtuellen Allianzen leisten ungewollt auch die Medien, die in ihren Berichten über den Terrorismus jene Symbolik gleich mittransportieren. Menschen, die das einer Tat zugrundegelegte Feindbild bereits teilen, werden Schilderungen von deren Brutalität nicht abschrecken, sondern eher ermuntern. Und wo derlei Berichte Verunsicherung erkennen lassen, bekommen potentielle Nachahmer gleich die Garantie, dass ihre Tat nicht ohne die gewünschte Wirkung bleiben wird. Nicht von ungefähr wird immer öfter diskutiert, wie die mediale Beachtung des Terrorismus eben diesem in die Hände spielt.
Den zweifellos besten Erfüllungs­gehilfen findet der IS allerdings in denjenigen politischen Kräften, die ebenso an einer »Auslöschung der Grauzone«, etwa der zwischen »einheimischen Deutschen« und »fremden Muslimen«, arbeiten und damit genau die Identitätsstrukturen aktivieren, die auch der IS adressiert. Genauer gesagt spielen sie damit eben jene co-konsti­tutive Rolle, die ihnen die Jihadisten bei der Radikalisierung junger Muslime zugedacht haben. Es ist jedoch nur bedingt ironisch, dass die Rechtspopulisten jedem Stöckchen hinterherrennen, das ihnen die so verachteten Islamisten hinwerfen. Wenn die Mobilisierungsversuche der Jihadisten im Westen nicht fruchten sollen, müssen ihrem hiesigen Pendant derlei Reflexe ausgetrieben werden.